Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Chassia Selanski

Interview am 21. Juli 2013 in Shavei Zion, Israel

In den Kriegsjahren 1941 bis 1945 musste die in Litauen geborene Chassia Selanski viele Schrecken miterleben, die ihr Leben bis ins hohe Alter prägten. Als sie neun Jahre alt war, wurde ihre Mutter durch ein Versehen deportiert und ermordet. Sie selbst kommt später zusammen mit ihrer Stiefmutter ins Lager, wo sie neben dem Hunger als ständigem Begleiter auch Schlägen durch die Aufseher ausgesetzt war. Obwohl sie noch ein Kind war, musste sie hart arbeiten und Schützengräben ausheben. Einmal musste sie mit ansehen, wie ihre Stiefmutter fast totgeprügelt wurde. In schlimmer Erinnerung war ihr auch, als sie von den Deutschen mit nichts in den Wald geführt wurden, und dort eine Woche lang ohne Essen, Decken u.a. ausharren mussten. Nach dem Krieg fand die Familie wieder zusammen und blieb zunächst in Wilna (Vilnius, Litauen) wohnen.

Kurzbiografie

Chassia Selanski wurde am 10. Juni 1932 als Tochter der Familie Michles in Litauen geboren. Ihre Mutter verlor sie im Alter von 9 Jahren, als diese versehentlich mit einem Kindertransport deportiert und auf dem Weg nach Auschwitz ermordet wurde.

Der Vater lernt nochmals eine Frau kennen, die er nach dem Krieg heiratete. Diese Frau gibt sich im Lager als Chassias Mutter aus, um sie besser beschützen zu können. Chassia musste schwere Arbeit verrichten und viel Leid erdulden. Nach dem Krieg war Chassia für einige Zeit in einem Kinderheim in Wilna (Vilnius, Litauen) untergebracht, ehe ihr Vater sie dort nach seiner eigenen Befreiung aus Dachau fand. Der Vater heiratete nochmals, die Familie blieb bis zur Emigration 1960 nach Israel in Wilna wohnen. Da ihr die Schulausbildung fehlte, konnte Chassia Selanski keinen Beruf erlernen. Sie heiratete in den 1950ern und bekam eine Tochter.

Inhaltsübersicht

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Erinnerungen von Chassia Selanski

Chassia Selanski ist eine geborene Michles. Sie war zuerst im Ghetto Kowna (Kauen) in Litauen. Als erstes hat sie ihre Mutter verloren. Es kam ein Auto mit verdunkelten Fenstern, das alle Kinder mitgenommen hat. Die Mutter hatte gedacht, sie wäre bei den anderen Kindern in dem Auto. Doch sie war wieder herausgeschlüpft.

Als der Vater von der Arbeit kam, schrie Chassia, man habe die Mutter mitgenommen. Der Vater fragte: „Meine?“, aber Chassia korrigierte: „Nein meine!“. Sie war mit dem Auto zusammen mit den Kindern abtransportiert worden. Auch die Großeltern wurden nach Stutthof deportiert. Das war 1941.

Als die Deutschen kamen, wollte die Stiefmutter Chassia beschützen. Sie fragte die Soldaten, wohin sie das Kind bringen würden, es hätte noch ein Leben vor sich. Ein Mann namens Max fragte sie, wie alt sie sei. Statt zwölf sagte sie 18 Jahre, woraufhin sie zwei Schläge bekam und er zu ihr sagte: „Nun gehst Du ins Krematorium“. Er hatte erkannt, dass sie log. Doch dann wurde sie zur Arbeit geführt. Sie mussten Schützengräben ausheben. Das war im Lager Schanz (siehe Anmerkungen unten).

Ihre Stiefmutter schickte sie ins nächste Dorf, um dort um Essen zu bitten. Aber Chassia wollte nicht. Als sie später wieder zur Mutter zurückkehrte, sah sie, wie diese auf dem Boden lag und mit einem Stock geschlagen wurde.

Als die russische Armee vorrückte, führten die Deutschen sie zunächst eine Woche in den Wald hinaus. Dort gab es kein Essen und nichts. Die Befreiung war am 23. Januar 1945. Danach brachte man sie nach Litauen. Im Kinderheim traf sie auf ein siebenjähriges Mädchen namens Hanna, das man ins Heim gebracht hatte, weil sie als einzige ihrer Familie übriggeblieben war.

Der Vater von Chassia Selanski war im KZ Dachau und wurde somit erst im Mai 1945 befreit. Als er zurückkehrte, fand er sie dort im Kinderheim.

Chassia Selanski schildert weiter, dass die Litauer - schon bevor die Deutschen anrückten – sie mit Gewehren bedrohten und ihnen ihr Eigentum nahmen und sie in ein Ghetto brachten.

Ergänzende Anmerkungen von Chassia Selanskis Tochter

Die Familie von Chassia Selanski lebte bereits vor dem Krieg in Kauen. Ihre leibliche Mutter, wurde mit dem Auto Richtung Auschwitz abtransportiert und auf dem Weg dorthin ermordet. Jedoch ließ sich später nicht mehr feststellen, wo genau die Ermordung stattfand.

Der Vater und die Stiefmutter waren bereits im Ghetto ein Paar, sie heirateten aber erst nach dem Krieg und bekamen zusammen noch einen Sohn.

An der Prügel, die ihre Stiefmutter bekam, nachdem sie Chassia ins Dorf schicken wollte, um nach Essen zu fragen, wäre sie fast gestorben. Innerlich war sie gebrochen. Chassia hat die Stiefmutter angefleht, dass sie bei ihr bleibt und nicht ins Hauptlager zurückgeht. Sie hatte Angst, dass sie allein nicht überleben würde. Die Stiefmutter lebte dann im Prinzip für Chassia. Sie gab sich überall als ihre leibliche Mutter aus, um sie besser beschützen zu können. Tatsächlich ging Chassia immer wieder in die Dörfer und bat um Essen. Einmal kam sie dabei in eine Küche, wo ein Junge gerade beim Essen saß. Die Mutter des Jungen sagte zu ihrem Sohn: „Iss dein Essen auf, sonst siehst du aus wie die.“

Das Kinderheim, in dem sie Hanna kennenlernte, war in Wilna (Vilnius), wo die Familie nach dem Krieg wohnen blieb.

Einen Beruf konnte Chassia Selanski nicht erlernen, weil ihr die Schulbildung fehlte. Sie heiratete in Litauen. Ihr Mann hatte die Schule noch vor Kriegsbeginn abgeschlossen und konnte so später Maschinenbau studieren. 1960 wanderte die ganze Familie nach Israel aus: der Vater, die Stiefmutter, der kleine Bruder, Chassia, ihr Mann und die Tochter. Als Maschinenbau-Ingenieur bekam der Mann von Chassia Selanski gleich eine Anstellung in der Luftfahrtindustrie, wo er bis zu seiner Pensionierung blieb.

Chassia hatte zahlreiche Freundinnen, die ebenfalls Überlebende des Holocausts waren. Sie stand mit ihnen in regem Kontakt. Chassias Mann überlebte die Schoah zusammen mit seinen Eltern, so dass er das psychisch besser verkraftete und kaum bis nie darüber sprach. Er starb erst vor wenigen Jahren.

Chassia dagegen litt sehr unter den Erinnerungen und sprach ständig über das Lager und das Ghetto. Der Vater fragte immer wieder: „Wie können wir der Mama helfen, damit sie weiterleben kann?“ Alles Denken und Handeln richtete sich nach ihr, damit sie irgendwie durch´s Leben kommen konnte.

Zusammengestellt mit der freundlichen Unterstützung von Dorothea Bayer (Zedakah), die das Gespräch mit der Tochter im März 2021 führte.