Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 13.1

Die nationalsozialistischen Konzentrationslager

Als Mordechai Papirblat am 13. Juli 1942 ins Konzentrationslager Auschwitz eingeliefert wurde, war das Lager weder das, was wir heute damit verbinden – ein weltweites Symbol des nationalsozialistischen Terrors und besonders des jüdischen Holocaust –, noch das, was wir heute sehen, wenn wir das Stammlager Birkenau oder die Überreste der Außenlager besichtigen.

Mordechai Papirblat hatte bis zu seiner Inhaftierung noch nichts vom KZ Auschwitz gehört. Er wusste nicht einmal, was ein Konzentrationslager war. Doch was war ein Konzentrationslager?

In der Folge der Regierungsübernahme durch Adolf Hitler und der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) am 30. Januar 1933 wurden im Deutschen Reich Konzentrationslager eingerichtet. Das erste, das KZ Nohra bei Weimar, bereits am 3. März 1933. Zunächst unterstanden die Lager vor allem der SA, dann – nach dem sog. Röhm-Putsch Juni/Juli 1934 – nur noch der SS mit Heinrich Himmler an der Spitze. Die Konzentrationslager waren von Anfang an der normalen Rechtsprechung enthoben (sog. »Schutzhaft«) und damit rechtsfreie Räume bzw. Orte, die einer eigenen Rechtsprechung folgten. Die ersten Gefangenen waren vor allem politische Gegner der Nationalsozialisten.
In einer zweiten Phase wurden zusätzlich Personen inhaftiert, die im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie unerwünscht waren, da sie den sog. »gesunden Volkskörper« verunreinigten: sog. »Asoziale« und »Arbeitsscheue« (z.B. Wohnsitzlose, Alkoholkranke, Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, Schwerverbrecher und Kriminelle), Zeugen Jehovas (sog. »Bibelforscher«), Prostituierte, Homosexuelle; später auch Sinti und Roma sowie Juden und andere. Die Inhaftierten waren fast ausschließlich deutsche Staatsbürger, die oftmals nach einer Zeit der Haft wieder freigelassen wurden.
Mit der Machtausdehnung des Deutschen Reichs 1938/1939 (siehe Kap. 4) wurden auch in den eroberten Gebieten Konzentrationslager errichtet. Der Zweite Weltkrieg führte seit 1. September 1939 dazu, dass die Konzentrationslager stärker belegt und die Häftlinge mehrheitlich aus den besetzten Ländern stammten (zahlenmäßig v.a. Polen und ab dem 22.06.1941 sowjetische Soldaten, Beamte u.a.).

In den Konzentrationslagern wurde schon bald mit der Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge begonnen (»Vernichtung durch Arbeit«). Waren diese zunächst in SS-eigenen Betrieben tätig, kam es im Lauf der Zeit immer mehr zur Zusammenarbeit der SS mit der Privatwirtschaft. Der Krieg verstärkte den Bedarf an billigen Arbeitskräften, da die deutschen Männer zum Wehrdienst eingezogen wurden. In der Folge kam es zu einem weiten Netz von Neben-, Außen- bzw. Arbeitslagern.

Eine letzte Phase der Konzentrationslager begann mit der systematischen Verfolgung und dann Vernichtung der Juden, die ab Juli 1942 umgesetzt wurde (sog. »Aktion Reinhardt«). Dafür wurden spezielle Vernichtungslager entwickelt, gebaut und schließlich wieder rückgebaut (siehe Kap. 8).

Abbildung 1: Liebermann-Shiber: Hinrichtungen, Massengrab.

Die rasseideologische Verfolgung und Vernichtung derer, die nicht ins nationalsozialistische Schema passten, fand nicht nur in den Konzentrationslagern statt. Der Reichsführer SS Heinrich Himmler setzte in den Gebieten, die dem Deutschen Reich eingegliedert oder von ihm besetzt wurden, sog. »Einsatzgruppen« ein. Im großen Stil erfolgte das in Osteuropa (1939 Polen, 1941 Balkan, 1941 – 1945 Sowjetunion). Am 17. Juli 1941 beauftragte Heinrich Himmler den Lubliner SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik aus Österreich mit der Germanisierung der Sowjetunion und dem Aufbau von SS-Stützpunkten. Entsprechend des Generalplans Ost sollte ein deutsch besiedeltes Gebiet bis zum Ural entstehen. 30.000.000 Opfer waren einkalkuliert.
Die Einsatzgruppen – bestehend aus Sicherheitspolizei (Geheime Staatspolizei, Kriminalpolizei), Sicherheitsdienst, Ordnungspolizei und Waffen-SS – ermordeten die jeweiligen staatlichen Eliten, Kommunisten, Partisanen, Juden, Sinti und Roma, sog. »Asoziale«, psychisch Kranke, geistig oder körperlich Behinderte u.a. Gemäß der nationalsozialistischen Ideologie galten Juden und Kommunisten als Teil der »jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung«, die »ausgemerzt« werden sollte. Die Einsatzgruppen operierten hinter den Frontlinien der Wehrmacht, teilweise gemeinsam mit ihr.1 Auch bezogen sie einheimische Helfer ein und schürten Pogrome gegen Juden, die dann von einheimischen, antisemitisch eingestellten Nationalisten verübt wurden.2

Die »Entwicklung« der nationalsozialistischen Konzentrationslager folgte keinem von oben vorgegebenen, festen Plan, sondern erfolgte oftmals unter chaotischen, improvisierten und »experimentellen« Bedingungen angesichts der jeweiligen »Erfordernisse« und nicht selten im Wettstreit der Kommandanten untereinander. Leidtragende waren immer die Häftlinge, die unter menschenverachtenden Zuständen leben mussten und dabei der Willkür der Aufseher ausgesetzt waren. Das Leben der Häftlinge war von permanenter Angst, Hunger und Unsicherheit geprägt.

Insassenzahlen der SS-Konzentrationslager

Oktober 1934:
2.400
1. November 1936:
4.761 (nach den Olympischen Spielen in Berlin)
30. Juni 1938:
24.000 (nach dem Anschluss Österreichs, März 1938)
Mitte November 1938:
50.000 (nach der sog. Reichspogromnacht)
31. Dezember 1938:
31.600
1. September 1939:
21.400 (zu Beginn des 2. Weltkriegs)
31. Dezember 1940:
53.000
31. Dezember 1941:
80.000 (nach Beginn des sog. »Russlandfeldzugs«)
31. Dezember 1942:
115.000 (nach Beginn der sog. »Endlösung der Judenfrage«)
31. Dezember 1943:
315.000
15. Januar 1945:
714.211

Das Konzentrationslager Auschwitz war zunächst ein Konzentrationslager wie viele andere auch. Zu Beginn war nicht absehbar oder geplant, dass es einmal eine Sonderstellung einnehmen würde. Erst schrittweise wurde es hinsichtlich Fläche, Zwangsarbeit, Häftlings- und Opferzahlen zum größten nationalsozialistischen Konzentrationslager ausgebaut. Der Konzentrationslagerkomplex Auschwitz »diente« sowohl der Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge als auch der Vernichtung von Menschen, die nicht zur NS-Ideologie passten. Beides geschah in unvorstellbaren Ausmaßen unter Einsatz der zur Verfügung stehenden Ressourcen und Kompetenzen. Am Ende besaßen die drei Stammlager Auschwitz I – III 47 Nebenlager und zahllose Außenkommandos (mit ca. 21.000 Häftlingen). Der Ausbau war bei der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 noch nicht abgeschlossen (siehe Kap. 13.2 – 13.4, 17.4, 18, 21).

Zum ganzen Kapitel:
Das KZ Auschwitz 1942 – 1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45, bearb. von Andrea Rudorff, VEJ 16, Berlin/Boston 2018.
Laurence Rees, Auschwitz. Geschichte eines Verbrechens, 7. Aufl., Berlin 2018.
Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, bpb Schriftenreihe Bd. 1708, Bonn 2016.

1Abb. 1: Bild Nr. 26 aus: Ella Liebermann-Shiber, Erinnerungen aus dunkler Vergangenheit. Texte und Zeichnungen einer Holocaust-Überlebenden im Kontext ihres Lebens und Gesamtwerks, hrsgg. von Zedakah e.V. und Thorsten Trautwein, Edition Papierblatt Bd. 4, Neulingen 2021, S. 69; vgl. https://www.papierblatt.de/edition/band4.
2Die genauen Opferzahlen lassen sich nur schwer ermitteln. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Einsatzgruppen_der_Sicherheitspolizei_und_des_SD (14.04.2020).
3Entnommen aus: Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, bpb Schriftenreihe Bd. 1708, Bonn 2016, S. 727; Zahlen teilweise geschätzt, mit Auslassungen, Erklärungen in Klammern von Thorsten Trautwein.

Autor: Thorsten Trautwein, 06.06.2020