Eindrücklich schildert Mordechai in seinem Buch den Jom Kippur am 26. September 1944:1
»Wir lebten abgeschnitten von der Welt, doch irgendwie gelang es uns, den Kalender nicht aus den Augen zu verlieren, auch dank der neuen Häftlinge. Es waren die Tage nach dem jüdischen Neujahr. Bald würde es Jom Kippur sein. Mein dritter Jom Kippur im Lager! ... Von einem Freund erfuhr ich, dass einige Häftlinge an diesem Abend in einer der Baracken heimlich das Kol-Nidre-Gebet aufsagen wollten. Ich versteckte mein Brot im Bett und ging in Block 12, um das Gebet zu hören. In diesem Block lebten Häftlinge, die in den Kohlegruben um Jaworzno arbeiteten. Es war harte Sklavenarbeit, die mir erspart geblieben war ...
Im Block herrschte geheimnisvolle Stille. Block 12 war ganz bewusst ausgewählt worden, da er in einiger Entfernung von den Wachtürmen lag. In einer Ecke sah ich einen brennenden Kerzenstummel auf dem Brett einer Pritsche, dessen Flamme hin und her flackerte, als fürchte sie, von der SS entdeckt zu werden. Ähnlich wie die Flamme pochte mein Herz vor Aufregung. In gewissen Abständen gaben die Bewohner des Blocks, die draußen wachten, ein Zeichen der Entwarnung. Sie wechselten sich ab, damit jeder an diesem heiligen Abend teilnehmen konnte. Was für ein merkwürdiges Bild! Wir glichen zwangskonvertierten Juden zur Zeit der spanischen Inquisition. Die Vorbereitungen waren getroffen. Nun standen die Häftlinge um die Kerze herum, deren Schein ihren rußbedeckten, eingefallenen Gesichtern etwas Schauriges verlieh. Ein Jude mittleren Alters sprach das Gebet, eindringlich und mit Nachdruck. Dabei kämpfte er gegen seine Tränen an und bemühte sich, möglichst leise zu singen, um draußen nicht gehört zu werden. Ich verspürte den Drang, laut aufzuschreien, um meinen Schmerz loszuwerden. Da stand der Vorbeter, umringt von Männern mit hellen Tränenspuren auf rußbedeckten Gesichtern, die Gebete murmelten. Diesen Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen! Unterdrückte jüdische Häftlinge, Staub und Asche, trotzten der Schreckensherrschaft der SS und ihrer vielen Helfer!
Natürlich wurde nicht das gesamte Gebet aufgesagt. Die Angst vor den Deutschen und die Erschöpfung der Grubenarbeiter nach einem langen Arbeitstag ließ das nicht zu. Wir beschränkten uns auf das Wesentliche. Der Vorbeter – sein Name war Luxemburg – begann: ‚Vor dem himmlischen Gericht und vor dem irdischen Gericht …‘ Nach dem wichtigsten Teil, dem Kol Nidre – ‚alle Gelübde‘ – mit seiner alten Melodie, die mich so bewegte, wurden noch einige Abschnitte des Gebets aufgesagt, und schließlich: ‚Schir Hamaalot – aus den Tiefen rufe ich zu dir!‘2 Damit hätte das Gebet beendet sein sollen. Wir hatten uns bemüht, leise zu sein, wir hatten unsere Tränen zurückgehalten, doch nun wurde das Schluchzen der Häftlinge immer lauter. Die innere Bewegung war stärker als jede Vorsicht. Es war ein lautes Weinen aus der Tiefe unseres Herzens. ‚Aus der Tiefe rufen wir …‘ – Einige der Häftlinge würden in wenigen Stunden ihre Nachtschicht in den Kohlegruben beginnen.
Vorsichtig schlich ich mich aus dem Block. Dieser bewegende Abend war mir zu Herzen gegangen und hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Noch lange wälzte ich mich auf meiner Pritsche hin und her, bis ich endlich einschlief.«3
Kol Nidre: https://www.youtube.com/watch?v=fPIiQDICFFc (05.01.2020);
siehe auch: http://www.talmud.de/tlmd/das-kol-nidrej-gebet/ (05.01.2020).
Mordechai deutet diese Erinnerung in seinem Zeitzeugenbericht kurz an:
vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2013, 0:25:30 – 0:26:20.
In diesem Zeitzeugenbericht hat er zuvor von der Bedeutung des Humors gesprochen (vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2013, 0:24:40 – 0:25:30). Humor und sein jüdischer Glaube sind Beispiele für Widerstand gegen die nationalsozialistische Ideologie und gegen die Lagerregeln der SS sowie für eine Form der Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Es sind Ressourcen, die Mordechai und den anderen Häftlingen Kraft zur Bewältigung und Neuinterpretation ihrer extremen Lebenssituation geben. Mit Humor und Glaube erheben sie sich über ihre Peiniger und zeigen urmenschliche Verhaltensweisen eines sinnhaften und glücklichen Lebens inmitten einer menschenverachtenden Umgebung, in der der Tod oftmals näher ist als das Leben. Die eindrückliche Feier des Jom Kippur verbindet nicht nur die anwesenden Feiernden miteinander, sondern lässt sie in dieser Nacht bei der Feier mit ihren Gebeten und ritualisierten Handlungen eins werden mit dem weltweiten jüdischen Volk in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bis in Ewigkeit! Gleichzeitig war höchst ungewiss, ob sie jemals in die Welt zurückkehren würden, aus der ihre Erinnerungen stammten, ja, ob es diese Welt überhaupt noch gab oder jemals wieder geben würde.
Ein anderes Beispiel ist der Gesang:
Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 393f.
Bezeichnend ist, dass Mordechai den Bericht über den Gesang mit den Worten schließt: »Das Lied in den Ohren, ging ich an jenem Abend mit einem festen Entschluss schlafen: Komme, was wolle! Wir würden alles tun, um zu überleben! Selbst wenn die Lage noch so zum Verzweifeln und die Chancen noch so gering waren.«4
1Vgl. Andreas Nachama, Walter Homolka und Hartmut Bomhoff, Basiswissen Judentum, bpb Schriftenreihe Bd. 10307, Bonn 201, S. 242-248.
2Vgl. Psalm 130. Mit den Worten ‚Schir Hamaalot‘ (‚Lied des Aufstiegs‘ nach Jerusalem) beginnen die Psalmen 120 bis 134, die sog. Wallfahrtslieder/-psalmen.
3Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 375-377.
4Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 394.
Autor: Thorsten Trautwein, 06.06.2020