1946 war das Jordantal erst teilweise erschlossen. Das Land musste urbar gemacht und dann gepflegt werden. Der Kibbuz war landwirtschaftlich ausgerichtet. Er besaß Kühe, Hühner, Schafe und Ziegen. Ferner Olivenbäume und Felder, auf denen Getreide, Kartoffeln, Tomaten und anderes Gemüse angebaut wurde. Regen fiel nur im Winter und Frühjahr. Durch zusätzliche Bewässerung waren zwei Ernten im Jahr möglich. War das Klima im Winter angenehm mild, so wurde es im Sommer jedoch sehr heiß. Landwirtschaft war bei diesen klimatischen Bedingungen harte Arbeit.1
Neben der Landwirtschaft mussten die Kibbuz-Mitglieder alle anfallenden Arbeiten selbst erledigen. Dazu gehörten der Bau und die Instandhaltung der Häuser, Ställe, Schuppen für die Geräte sowie alle Tätigkeiten in der Schlosserei, Schreinerei, Bäckerei sowie anderes mehr. Die Frauen arbeiteten vorwiegend in der Küche, im Speisesaal, in der Wäscherei, im Kleiderlager, in der Näherei, im Gemüsegarten und verarbeiteten die Wolle. Immer wieder waren Mitglieder des Kibbuz auch außerhalb tätig; zum Beispiel auf den Grapefrucht- und Bananenplantagen, in den Weinbergen oder im Steinbruch von benachbarten Kibbuzim sowie als Tagelöhner im Wasserkraftwerk Naharajim.
Diejenigen, die noch wenig Hebräisch verstanden, erhielten an zwei Nachmittagen Unterricht in kleinen Gruppen. Anhand von hebräischer Literatur, Liedern und Gedichten von Chaim Bialik und anderen wurde dabei nicht nur die Sprache, sondern gleichzeitig jüdische Kultur und Identität gelehrt.
Im Kibbuz wurde jede Hand gebraucht, weshalb die Kinder gemeinschaftlich betreut und erzogen wurden. Gegessen wurde im Gemeinschaftssaal, in dem auch das gesellschaftlich-gesellige Leben stattfand. Feste wurden gemeinsam gefeiert und hin und wieder Ausflüge unternommen, um das Land kennenzulernen. So wurden Jerusalem, Obergaliläa und der See Genezareth besucht. Gelegentlich fuhr man abends nach Tell Or, in die Siedlung der Arbeiter des Wasserkraftwerks Naharajim, wo immer wieder Filme gezeigt wurden.
Für viele Mitglieder ersetzte die Kibbuz-Gemeinschaft die Familie, die sie im Holocaust verloren hatten. Man arbeitete nicht nur zusammen, sondern lebte miteinander und war füreinander da.
Mordechai kam Anfang Februar nach Gescher. Da empfand er das Klima noch als angenehm, doch Woche für Woche wurde es wärmer. Von der harten Feldarbeit schmerzte ihm der Rücken. Als die Zeit zum Ernten der Felder gekommen war, musste er bei Hitze im schnellen Takt einer Maschine Säcke mit Weizen zunähen und zur Seite stellen. Es war heiß, die Arbeit war schwer und kleine Fliegen machten ihn verrückt. Die schwere körperliche Arbeit erinnerte ihn an die Hilfsarbeiten bei Bauern in Polen und an die Zwangsarbeit, die er in Auschwitz verrichten musste. Bedeutend angenehmer empfand Mordechai die Arbeit im nahen Wasserkraftwerk. Dort musste er die Turbinen am Laufen halten und dafür die Maschinen immer wieder mit Fett einschmieren. Für diese Arbeit im Wasserkraftwerk wurde er von der Betreiberfirma bezahlt. Doch erhielt nicht Mordechai, sondern der Kibbuz den Lohn, da man im Kibbuz alles teilte. Mit den Einnahmen wurden die fälligen Ausgaben bezahlt und immer wieder neues Land vom jordanischen König Abdallah gekauft. Einerseits hatte Mordechai Verständnis dafür, doch andererseits hätte er auch gerne eigenes Geld besessen.
Je länger Mordechai im Kibbuz war, desto mehr merkte er, dass er von seinem tiefsten Inneren her ein Stadtmensch war und lieber individueller lebte. Die Gleichheit der Mitglieder bedeutete auch, dass das Essen genau zugeteilt wurde. Jeder erhielt als Nachtisch zum Beispiel einen Apfel. Doch Mordechai wollte so viele Äpfel essen können, wie er mochte. Es waren aber auch andere Erfahrungen, die ihm das Leben im Kibbuz schwer machten. Entgegen des Ideals der Gleichheit erlebte er Vorurteile gegenüber den »KZniks«, wie die Holocaust-Überlebenden genannt wurden. Ihre Lebenserfahrung und ihr Schicksal als Holocaust-Überlebende interessierten nicht. Im Gegenteil, sie galten als schwach und ungeeignet für körperlich anspruchsvolle, landwirtschaftliche Arbeit. Zudem stehe ihre Opfermentalität dem aktiven Aufbau des Landes entgegen.2 Da Mordechai bereits Hebräisch konnte, verstand er, wie man heimlich über die »Neuen« sprach. Die im Land Geborenen, die hier Aufgewachsenen und diejenigen, die in den 1930er Jahren nach Palästina ausgewandert waren, hatten eine völlig andere Lebensgeschichte und Lebenshaltung als er.
Zum ganzen Kapitel:
Josef Zwi Halperin, Der Weg in die Freiheit 1945 – 1946, 1996 (Hebräisch).
Jim G. Tobias, Die Kibbuzim. Landwirtschaftliche Siedlungen als Geburtshelfer des jüdischen Staates in Palästina, 08.12.2014; https://www.hagalil.com/2014/12/kibbuzim/ (11.07.2020).
1Abb. 1: Josef Zwi Halperin (?), aus: Josef Zwi Halperin, Der Weg in die Freiheit 1945 – 1946, 1996, Bild Nr. 70, ohne Seitenzahl (Hebräisch); Scan bearbeitet von Timo Roller, 2020.
2Vgl. hierzu Uffa Jensen, Elik und die »Jeckes«. Die aschkenasischen Juden, 30.10.2002, https://www.hagalil.com/israel/israel-reisen/tel-aviv/aliya.htm (11.06.2020).
Autor: Thorsten Trautwein, 04.08.2020