Nachdem Mordechai in Tel Aviv angekommen war und eine Lehrstelle bei der Zeitung Haboker gefunden hatte, war er bereit, sich erneut mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie lastete nach wie vor schwer auf ihm. Nachts waren es Alpträume und auch tagsüber kamen immer wieder Erinnerungen, Bilder, Eindrücke, Empfindungen in ihm auf, sobald sie durch irgendetwas ausgelöst wurden. Er spürte, dass er nur dann wirklich neu beginnen konnte, wenn er es schaffte, die Vergangenheit abzuschließen. So wollte er einerseits seine Vergangenheit ordnen und sich von der Seele schreiben, was sich ihm so tief ins Unterbewusstsein eingeprägt hatte und ihn wie ein dunkler Schatten begleitete. Doch wollte er andererseits auch seiner Verantwortung gerecht werden und das, was er erlebt hatte, bezeugen und dokumentieren.
In der zweiten Jahreshälfte 1947 nahm er die Notizen zur Hand, die er in Radom angefertigt hatte: Listen und Texte mit Ereignissen, Namen und Jahreszahlen, die er damals zusammengetragen hatte (siehe Kap. 24). Jetzt ordnete und ergänzte er sie. Er formulierte und schrieb alles nieder, an das er sich erinnerte. So entstand im Rückblick sein »Tagebuch«, das am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, Ende August 1939, in Warschau beginnt und mit seiner Rückkehr nach Radom, Anfang Februar 1945, endet. Es umfasst den polnischen Holocaust, wie er ihn erleiden musste. Das Schreiben war verbunden mit der schweren Erinnerung an seine Eltern und Geschwister, an seine Verwandten sowie an seine verlorene Heimat. Wieder durchlebte er den Antisemitismus, Gewalt, Hunger und Angst. Nach und nach füllte Mordechai zwölf Hefte, über 500 Seiten von Hand geschrieben.
Als er sein Werk beendet hatte, verschloss er die Hefte in einem dicken Umschlag, den er in seinem Schrank verwahrte mehrere Jahrzehnte lang! Darüber gesprochen hat er seither mit niemandem (siehe Kap. 43).1
Bald nachdem Mordechai die Niederschrift beendet hatte, begann er seine Tätigkeit bei der Zeitung Jedi’ot Acharonot.
1Abb. 1: Foto (2019?), Shlomo Papirblat, S. 136 des Manuskripts von Mordechai Papirblat.
Autor: Thorsten Trautwein, 04.08.2020