Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 7

Bei Tante Rajca in Jablonow (Ende April 1941 bis 1. Januar 1942)

7.1 Mordechai erreicht Jablonow

Die Flucht aus dem Warschauer Ghetto war gelungen! Mordechai erreichte Jablonow, wo Szmuel-Elijahu und Rajca Wajngarten eine mittelgroße Landwirtschaft mit Vieh und eigenen Feldern betrieben. Von April bis September 1940 hatte Mordechai mit seiner Familie hier bereits den Sommer verbracht. Sieben Monate später stand er nun wieder vor der Tür. Diesmal jedoch allein. Als Tante Rajca ihn sah, erkannte sie ihn zunächst nicht wieder. Er war stark abgemagert und sah erbärmlich aus. Die Verwandten nahmen ihn auf und reichten ihm erst einmal Essen, damit er wieder zu Kräften kam. Auch hier verbreitete sich die Nachricht seiner Ankunft in Windeseile und in Kürze fanden sich die Nachbarn in der Stube ein. Alle wollten wissen, was er über die Situation der Juden in Warschau berichten konnte. Auch hier waren die Menschen schockiert von dem, was Mordechai erzählte, und gerieten in große Sorge um ihre Angehörigen in der Hauptstadt.

Im Dorf Jablonow lebten acht jüdische Familien. Eine Familie war die von Rajca und Szmuel-Elijahu Wajngarten 1, eine andere Familie war die von Luzer Wajngarten 2, dem Bruder von Szmuel-Elijahu. Die Juden in den ländlichen Regionen spürten zwar auch den zunehmenden Druck, konnten aber ihrem gewohnten Leben im Großen und Ganzen nachgehen. Da Mordechai der Familie seiner Tante nicht zur Last fallen wollte, beteiligte er sich an der Arbeit in Haus und Hof. Zudem unterrichtete er die Söhne von Szmuel-Elijahu und Luzer in der Tora.
Unablässig dachte er mit großer Sorge an seine Eltern und Geschwister. Eine Postkarte, die er an sie schrieb, blieb unbeantwortet. Wie es ihnen wohl ging? War ihre Flucht gescheitert? Befanden sie sich bereits auf dem Weg zu ihm oder waren sie gefasst und wegen des Fluchtversuchs hingerichtet worden? Und wie ging es den anderen Verwandten? Mehrfach stand er kurz davor, zu ihnen zurückzukehren.

Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 87 – 93.

Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2015, 0:20:15 – 0:21:14.

Mit der Zeit wurde auch das Leben auf dem Land schwerer. Die deutschen Besatzer und die volksdeutschen Nachbarn nahmen sich immer wieder und immer mehr vom Vieh und von der Ernte der jüdischen und christlichen Bauern, sodass diesen immer weniger zum Leben blieb. Mordechai merkte, dass das Essen kaum für die Familie seiner Tante reichte. So suchte er sich bei den Nachbarn im Dorf und schließlich auch in den Nachbardörfern Gelegenheitsarbeiten. Die Arbeitssuche führte dazu, dass er oft mehrere Tage unterwegs war.

7.2 Auch Chaim und Chaja gelingt die Flucht – Vater ist gestorben

Als Mordechai wieder einmal auf einem Hof außerhalb Jablonows arbeitete, wurde ihm gesagt, dass Familienangehörige von ihm aus Warschau in Jablonow angekommen seien. Sofort machte er sich auf den Weg dorthin und konnte es kaum glauben, als er seinen Bruder Chaim Leibisch (15/16 Jahre) und seine Schwester Chaja Riwa (11/12 Jahre) in den Armen hielt.
Chaim und Chaja waren durch die Abwasserleitung des Ghettos nach außen gekrochen, zum Bahnhof gegangen und hatten sich dann in einem Zug versteckt. Doch sie wurden entdeckt und auf offener Strecke aus dem Zug gestoßen. Zu Fuß waren sie den restlichen Weg bis Jablonow gegangen. 18 Tage waren sie unterwegs. Sie überbrachten allerdings die traurige Nachricht, dass ihr Vater gestorben war. Er war immer schwächer geworden und eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Szlomo Papirblat war im Alter von ungefähr 48 Jahren buchstäblich verhungert.

Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 94 – 97.

Chaim und Chaja machten sich im Haushalt und in der Landwirtschaft der Tante nützlich. Sie packten an, wo immer es möglich war. Doch im Lauf des Juni 1941 verschlechterten sich die Lebensbedingungen erneut. Zuerst wurden ihnen die Felder genommen, dann beschlagnahmten zwei deutsche Kommissare jüdische Häuser und zogen selbst dort ein. Die jüdischen Besitzer standen von heute auf morgen buchstäblich »auf der Straße« und mussten sehen, wo sie blieben. Schließlich wurde das Vieh der verbliebenen jüdischen Bauern beschlagnahmt. Damit waren sie nicht nur arbeitslos, sondern auch ohne Lebensgrundlage. Wie sollte es weitergehen?
Wieder begaben sich Mordechai und sein Bruder auf Arbeitssuche. In den umliegenden Dörfern boten sie den polnischen und einzelnen deutschen Bauern, zu denen sie Vertrauen hatten, ihre Hilfe an. Da die deutschen Männer überwiegend im Krieg waren 3 und die polnischen Männer oft zur Zwangsarbeit eingezogen worden waren, fehlten Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Mordechai und Chaim hackten Holz, misteten Ställe aus, pflückten Kirschen und halfen bei der Ernte der Felder. Bezahlt wurden sie mit Naturalien, die sie mit der Familie von Tante Rajca teilten. In Acht nehmen mussten sie sich vor denen, die gegen Juden eingestellt waren. Hin und wieder kam es zu lebensgefährlichen Situationen.

Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 97 – 102.

Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2015, 0:21:15 – 0:25:17.

7.3 Mutter und Awraham kommen in Jablonow an – Zipa musste in Warschau zurückgelassen werden – Mutter stirbt

Schließlich gelang auch der Mutter Selda gemeinsam mit Awraham Jizchak (9/10 Jahre) die Flucht. Nach vielen erfolglosen Versuchen hatten sie schließlich doch eine Genehmigung erhalten, um das Ghetto stundenweise verlassen zu dürfen. In der Stadt hatten sie sich dann als polnische Christen ausgegeben, was Selda aufgrund ihrer blonden Haare, blauen Augen und Deutschkenntnisse gelungen war. Mit dem Zug waren sie nach Radom gefahren. Dort hatte sie jemand mit seinem Karren über Zwolen nach Jablonow mitgenommen. Doch mischte sich in die Freude über das Wiedersehen Trauer. Denn auch sie brachten eine traurige Nachricht mit: Sie mussten die vierjährige Zipa Scheindl im Ghetto zurücklassen. Mutter Selda hatte sie schön angezogen und in ein Waisenhaus gebracht. Das weitere Schicksal Zipas ist unbekannt. Wahrscheinlich starb sie 1941 im Ghetto oder 1942 im Vernichtungslager Treblinka. Sie wurde höchstens 5 oder 6 Jahre alt.

Selda und Awraham Jizchak waren völlig entkräftet und vor allem Selda war nervlich am Ende. Der Fuß, den sie sich bei ihrem ersten Fluchtversuch gebrochen hatte, war immer noch nicht richtig verheilt. Sie humpelte schwer und konnte kaum gehen. Mordechai wollte seine Mutter aufmuntern und sagte: »Hier hast du Essen. Jetzt wird es gut.« Doch seine Mutter antwortete ihm: »Nein, ich bin nicht gekommen, um zu leben, sondern zum Sterben.« Diese Worte prägten sich ihm tief ein. Dann übertrug sie ihm die Verantwortung für seine Geschwister. Er sollte für sie sorgen, da er der Älteste war. Bald darauf ist sie im Alter von 41 Jahren an einem regnerischen Schabbat nicht mehr aufgewacht (02.08.1941). Es war der Vortag vor dem 9. Aw, des Tages, an dem die Juden an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels denken.

Inständig hatte sich Mordechai gewünscht, dass seine Mutter Jablonow erreichen würde. Nun, da sie hier war, musste er schon wieder Abschied von ihr nehmen – diesmal sogar endgültig. Ihre Beerdigung war alles andere als einfach, da sich der jüdische Friedhof im zwölf Kilometer entfernten Zwolen befand und er kein Geld besaß. So musste Mordechai das Wenige verkaufen, das seine Mutter mitgebracht hatte, um Geld für den Kutscher zu bekommen, der ihren Leichnam nach Zwolen fuhr. Dort wurde sie auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt. Die Männer der jüdischen Bestattungsbruderschaft Chewra Kadischa 4 sagten zu Mordechai: »Es ist uns eine Ehre, eine Frau zu bestatten, der die Flucht aus dem Ghetto gelungen ist.«

Die vier Geschwister waren Waisen. Mordechai war 18 Jahre alt, seine drei Geschwister zwischen 16 und 9/10 Jahre alt. Wie sollte, wie konnte es weitergehen?

Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 103 – 106.

7.4 Die Geschwister trennen sich

Es war Spätsommer 1941 und allmählich kündigte sich der Herbst an. Den jüngeren Geschwistern Mordechais ging es von Woche zu Woche schlechter. Da beschlossen sie, dass die jüngeren Geschwister zu Verwandten nach Radom gingen, wo sie den Winter leichter ertragen konnten. Zudem würde es Tante Rajca schwerfallen, die vier zusätzlichen Esser den ganzen Winter über zu ernähren, wo sie für ihre eigene Familie nicht genug hatte. Die Geschwister sollten in den Familien der Schwestern ihrer verstorbenen Mutter Selda in Radom aufgenommen werden. Mordechai organisierte eine Fahrgelegenheit für seine Geschwister und verabschiedete sich unter Tränen von ihnen. Einige Tage später erhielt er von einem Juden, der aus Radom gekommen war, die Nachricht, dass die Geschwister gut in Radom an- und bei den Tanten untergekommen waren. Mordechai war erleichtert. »Ich habe die Kinder verteilt. Jedes zu einer Tante«, sagte er später. Er selbst blieb bei Tante Rajca und Onkel Szmuel-Elijahu in Jablonow.

Abbildung 1: Straßenszene im Ghetto Radom, ohne Jahr.

Ende September 1941 machte sich Mordechai auf den Weg nach Radom, um nach seinen Geschwistern zu sehen. Er kam problemlos ins Radomer Ghetto 5 und traf dort seine Geschwister und die Verwandten, bei denen auch er einige Zeit blieb. Den Geschwistern ging es den Umständen entsprechend gut. Allerdings wurden immer wieder arbeitsfähige Juden von der jüdischen Ghettopolizei aufgegriffen und für Zwangsarbeit für die Deutschen herangezogen. Auch Mordechai widerfuhr das. Da er aus dem Warschauer Ghetto entflohen war, besaß er keinen gültigen Ausweis. Die Situation war für ihn lebensgefährlich. Wenn die falschen Personen davon Wind bekamen, konnte er auf der Stelle festgenommen und sogar umgebracht werden. Auf Flucht aus einem Ghetto stand die Todesstrafe. Nach Sukkot 1941 6 kehrte Mordechai nach Jablonow zurück.

Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 107 – 110.

Das bisherige Schicksal von Mordechai und seinen Geschwistern glich einem Wunder inmitten einer immer verheerender werdenden Katastrophe. Sie hatten aus dem Warschauer Ghetto fliehen können, waren über unterschiedliche Wege bis Jablonow gekommen, wo sie sich wiederfanden. Als die Situation auch hier untragbar geworden war, fanden die vier Geschwister bei anderen Verwandten eine Bleibe. Geschickt (oder verzweifelt) nützten sie die wenigen Freiräume, die es noch gab. Freiräume, die freilich immer kleiner wurden und einen hohen Preis hatten, wie das Schicksal Zipas, der jüngsten Schwester, und der Tod der Eltern zeigten. Die Schlinge der Verfolgung und des Todes zog sich immer enger um Mordechai, um seine Verwandten und um die Juden Polens. Er sollte seine Geschwister und die Familienangehörigen in Radom und Opatow nicht wiedersehen.

Chaja Riwa und Awraham Jizchak waren in Radom bei Szmuel und Perla Kolender, geborene Huberman untergekommen. Szmuel und Perla hatten selbst drei Kinder – Matale, Rachela, Gitale – und führten eine Schneiderei im Haus. Sie lebten im Ghetto.

Chaim Leibisch ging von Radom aus nach Opatow 7, wo er bei Zalman und Sara (Surale) Grojsbaum, geborene Huberman aufgenommen wurde. Zalman und Surale hatten mehrere Kinder und führten eine Bürstenfabrik. Sie lebten bereits im Ghetto. Warum Chaim Leibisch nicht in Radom bleiben konnte und wie er nach Opatow gekommen war, ist nicht bekannt. Möglicherweise war es schwer, ihn aufgrund der Raumnot und der Lebensmittelknappheit in Radom zu versorgen. Vielleicht traute man dem 17-Jährigen den Weg nach Opatow zu und hatte eine Möglichkeit gefunden, wie er dorthin gelangen konnte.

7.5 Einweisung ins Ghetto Garbatka

Am 28. Dezember 1941 erging der Befehl an die Juden in Jablonow und Umgebung, dass sie innerhalb von drei Tagen ihren Wohnort verlassen und ins nächstgelegene Ghetto umsiedeln mussten. Wer sich dem widersetzte, wurde erschossen. Unter den Juden Jablonows brach Panik aus. Als sie ihre letzte Habe verkaufen wollten, bekamen sie kaum etwas dafür. Die Nachbarn nützten die prekäre Lage der Juden aus und sagten: »Warum sollen wir den Preis bezahlen? Wenn ihr gegangen seid, können wir uns kostenlos nehmen, was ihr zurücklasst!« Die Familie von Mordechais Tante kaufte sich mit dem letzten Geld einen Wagen und zwei Pferde. Sie beluden den Wagen mit dem, was sie unbedingt brauchten und machten sich auf den ungewissen Weg ins 14 km entfernte Garbatka. In einem gemeinsamen Zug verließen die Juden Jablonows am 1. Januar 1942 ihr Dorf – endgültig, bei Eis und Schnee: Männer, Frauen, kleine Kinder und alte Menschen. Nur Onkel Szmuel-Elijahu war nicht bei ihnen. Er war wenige Tage zuvor erkrankt und ins jüdische Krankenhaus nach Zwolen gebracht worden. Dort starb er einige Tage später. Damit war Tante Rajca Witwe und für ihre Kinder – wie auch für Mordechai – alleine verantwortlich.

Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 110 – 114.

Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2015, 0:25:17 – 0:26:21.

1Sie hatten zwei Söhne, von denen einer Joel hieß, und die Tochter Scheindele.
2Luzer war Wittwer. Er hatte mindestens zwei Söhne. Auch er war Bauer in Jablonow.
3Am 22.06.1941 hatte der Krieg gegen die Sowjetunion begonnen; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-Sowjetischer_Krieg (11.04.2020).
4Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Chewra_Kadischa (03.01.2020).
5Abb. 1: Foto, Heinrich Moepken, eigenes Werk, Album Nr. FA76/8, Yad Vashem Museum, Item ID 102732, https://photos.yadvashem.org/photo-details.html?language=en&item_id=102732&ind=68 (05.01.2020).
6Sukkot: 5. Oktober 1941; vgl. https://www.hebcal.com/hebcal/?year=1941&month=10&yt=G&v=1&nh=on&nx=on&mf=on&ss=on&i=off&lg=s&vis=on&c=off&geo=zip (02.01.2020).
7Den Schilderungen des Buches von Mordechai Papirblat entsprechend muss es sich um einen Ort in der Nähe von Radom gehandelt haben.

Autor: Thorsten Trautwein, 06.06.2020