Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Ernest Kolman

Vortrag am 29. September 2016 in Nagold, Deutschland

Ernest Kolman berichtete im Rahmen einer Gedenkwoche im oberen Nagoldtal von seiner eigenen Geschichte und dem Schicksal seiner beiden Cousinen, Ruth und Rosemarie Marx, die ihre Wurzeln im Nordschwarzwald hatten. Deren Vater, Dr. Eugen Marx, war ein beliebter Arzt, bis ihm die Nationalsozialisten die Ausübung des Berufs unmöglich machten. E. Kolman schilderte u.a. seine eindrücklichen Erinnerungen an die Reichskristallnacht und betonte mehrfach, wie unbegreiflich es ihm ist, dass sich ganz normale intelligente Leute in Massen der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen hatten. Er selbst fand als 12-Jähriger in England Aufnahme. Doch auch dort waren die ersten Jahre schwierig, nicht nur, weil er ganz auf sich allein gestellt war, sondern weil er als Deutscher zum Feind gehörte.

Kurzbiografie

Ernest Kolman wurde 1926 in der Kleinstadt Wesel am Rhein geboren. Als dort die Anfeindungen gegenüber Juden zunahmen, zog die Familie nach Köln. Immer wieder war er zu Besuch bei seinem Onkel Eugen Marx, der als Arzt in Neuweiler praktizierte. Bei Hausbesuchen und Unternehmungen lernte Ernest Kolman den Nordschwarzwald und seine Menschen kennen. Doch ab 1933 durfte sein Onkel nicht mehr praktizieren. Nun kümmerte sich Ernest Kolmans Mutter um die beiden kleinen Nichten Ruth und Rosemarie. Als alle Juden ihre Häuser verlassen mussten, kamen die beiden Mädchen in ein Waisenhaus und wurden wenig später zu Vernichtung in den Osten deportiert. Zu diesem Zeitpunkt hatte Ernest Kolman schon Aufnahme in England gefunden.

Ernest Kolman war Ehrenbürger der Stadt Wesel und versuchte als Zeitzeuge auf Veranstaltungen die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus wachzuhalten. Er starb am 11. Januar 2021 im Alter von 94 Jahren.

Inhaltsübersicht

00:00 - 02:53

Begrüßung durch den Nagolder Lehrer Gabriel Stängle

Gabriel Stängle begrüßt den aus London angereisten Ernest Kolman. Die Veranstaltung findet im Rahmen einer Gedenkwoche für die Arztfamilie Marx aus Neuweiler statt. Der Impuls zu der Reihe kam durch die Projekt-Ausstellung »War da was bei uns? Die Judenverfolgung im oberen Nagoldtal zwischen 1933 und 1945« von Schülern der Herzogin-Christiane-Realschule im Februar 2016 in Nagold.

02:53 - 07:10

Grußwort des Nagolder Dekans Ralf Albrecht

Dekan Albrecht streicht zu Beginn seines Grußwortes die Bedeutung des Erinnerns - gerade auch im kirchlichen Bereich - heraus, um eine Wiederholung der Geschichte zu vermeiden. Er fragt sich, was die Menschen wohl sagen, wie sie reagieren würden, wenn sich heute etwas Ähnliches ereignen würde. Die evangelische Kirche unterstütze gerne diese Reihe, gerade weil sie damals nicht alles richtig gemacht habe.

Während seines Theologiestudiums begegnete Dekan Ralf Albrecht in den 1980er Jahren Dorothy Marx in Tübingen. Was ihn damals sehr berührt und bis heute bewegt hat, waren ihre Schilderungen, was dieses Land ihrer Familie angetan hat – und ihr Umgang mit ihrer Geschichte, dass sie trotzdem Beziehungen zu Menschen aus diesem Land aufgebaut hat.

07:10 - 11:47

Grußwort von Kreisarchivar Martin Fries

Martin Fries freut sich über die in den letzten Jahren begonnene Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus in der Region, die er auch in seiner Funktion als Kreisarchivar gerne unterstützt. Er erinnert an die Verlegung des ersten Stolpersteins in einer Kreisgemeinde im Jahr 2014, die große, sehr gut besuchte Vortragsreihe »70 Jahre Kriegsende – 2. Weltkrieg« in Calw 2015 sowie verschiedene Projekte im Kreis, die sich mit der deutschen Geschichte von 1933 bis 1945 beschäftigen, und die bereits jetzt viele neue Erkenntnisse zutage gefördert haben.

In seinem Grußwort erinnert Martin Fries auch an den Nagolder Pfarrer Wilhelm Gümbel, der von 1935 bis 1940 Dekan in Nagold war und der bekennenden Kirche angehörte. Als im Mai 1940 der Wehrmachtspfarrer Ziegler aus Freudenstadt in der Nagolder Stadtkirche predigte und Adolf Hitler als gottgesandten Führer bezeichnete, verließ Gümbel demonstrativ das Kirchenschiff. Allerdings nicht ohne Folgen, er wurde zum Stadtpfarrer in Stuttgart zurückgestuft und musste eine Geldstrafe entrichten. Etwas diplomatischer ging sein Nachfolger Rudolf Brezger vor, der gegenüber dem Nationalsozialismus ebenfalls kritisch eingestellt war. Dessen Widerstand war vor allem ein innerer, doch gleichzeitig half Brezger Juden dabei, Unterschlupfmöglichkeiten zu finden.

Martin Fries hält es 70 Jahre nach Kriegsende für endlich an der Zeit, das was damals passiert ist aufzudecken, und die Dinge beim Namen zu nennen. Er denkt, dass diese ehrliche Aufarbeitung der Gesellschaft zum einen guttun wird, und zum anderen dabei helfe, wachsam zu sein, wenn erneut Unrecht aufziehe. Es gehe immer wieder darum, aus der Vergangenheit zu lernen, um die Gegenwart und die Zukunft besser bewältigen zu können.

11:47 - 14:00

Kurzer Rückblick auf die Zeit von Familie Marx in Neuweiler

Gabriel Stängle erzählt, dass keine 500m vom Ort der Veranstaltung, die beiden Cousinen von Ernest Kolman - Rosemarie und Ruth Elisabeth - Anfang der 1930er Jahre im alten Nagolder Krankenhaus geboren wurden. Sie waren die Töchter des seit 1929 in Neuweiler praktizierenden Arztes Dr. Eugen Marx. Als Distriktsarzt war er für ca. 15 Gemeinden im Oberen Wald zuständig. Daneben war er Badearzt im Kurort Bad Teinach.

Das Glück der jungen Familie währte nur kurz, denn ab 1933 stand Marx als Deutscher jüdischen Glaubens ganz oben auf der Abschussliste des Nationalsozialisten und zum Vorsitzenden der württembergischen Ärzteschaft beförderten Nagolders, Dr. Eugen Stähle. Dieser trieb die berufliche Ausgrenzung von Eugen Marx aktiv mit voran. Bereits im September 1933 wurde Marx von einer Gruppe Nationalsozialisten zusammengeschlagen und für mehrere Wochen im KZ Heuberg interniert. Obwohl er in Neuweiler sehr geschätzt war, konnte er nach seiner Rückkehr auf Betreiben der NSDAP nicht mehr weiter praktizieren. Aus diesem Grund zog die Familie Marx 1934 nach Köln. Doch noch im selben Jahr starb die Frau und Mutter, Carola Marx. Die beiden Töchter kamen zu Frida Kolman, der Schwester von Eugen Marx, und Mutter von Ernest Kolman.

14:00 - 17:43

Ernest Kolmans Herkunft

Ernest Kolman kam 1926 in Wesel am Rhein in einem katholischen Krankenhaus zur Welt. Er kam als Jude zur Welt und wird als Jude sterben, meint er, und doch ist er sich sicher, dass wenn es einen Gott gibt, dieser keinen Unterschied zwischen Juden, Christen oder Muslimen machen wird. Manche würden ihm das Jude-Sein absprechen, weil er kein frommer Jude sei.

17:43 - 21:13

Eindrückliche Erinnerung an 1933

Seit der Zeit, als er als Kind in Deutschland lebte, hat sich viel geändert. Im Frühjahr 1933 ging er einmal mit einem Freund durch die Fußgängerzone von Wesel, als er sah, dass an verschiedenen Geschäften die Schaufenster mit der Aufschrift »Jude« oder »Kauft nicht bei Juden« beschmiert waren. Zuhause fragte er seine Mutter, was das bedeute. Die gab ihm zur Antwort, das sei nur ein Spruch, und das werde sich legen – doch seine Unsicherheit wurde immer größer.

Weil er auf eine kleine jüdische Schule ging, entging er dem Spott und den Anfeindungen deutscher Schulkameraden, denen man eintrichterte, dass Juden dreckig und Untermenschen seien, und dass man nicht mit ihnen verkehren solle. Andere jüdische Kinder hatten nicht dieses Glück. Vielfach wurden sie aus staatlichen Schulen rausgeworfen, genauso wie die jüdischen Lehrer. Man sah in ihnen Gefährder des deutschen Blutes und deutscher Ehre. Keiner sprach mehr davon, dass 12.000 jüdische Soldaten für Kaiser und Vaterland im Ersten Weltkrieg auf dem sogenannten »Feld der Ehre« gefallen waren. 1914 hatte Kaiser Wilhelm II. noch gesagt, er kenne nur Deutsche, aber E. Kolman meint, dass schon damals die Reichswehr von Antisemitismus durchsetzt war, und nennt Beispiele dafür.

21:13 - 35:10

Rückblick in die Geschichte des Antisemitismus

1916 bezeichnete der damalige preußische Kriegsminister Adolf Wild von Hoheborn die Juden als Drückeberger. Ein Ausspruch mit nachhaltiger Wirkung. Im Oktober 1916 gab er einen Erlass zur Judenzählung heraus, der für die jüdischen Kriegsteilnehmer ein Schlag ins Gesicht war.

Zurückverfolgen lässt sich der Antisemitismus bis ins römische Reich. Die Kreuzfahrer wollten Jerusalem nicht nur von den Muslimen befreien, sondern auch von den Juden. Im Mittelalter gab es immer wieder und an vielen Orten Pogrome, wo man die Juden verfolgte und vertrieb oder ermordete. Ernest Kolman erinnert an die Judenverfolgung im Heiligen Land, in Mitteleuropa und bei der Rückeroberung Spaniens durch Isabella von Kastilien. Nur wenige Länder wie Holland und Polen gewährten ihnen damals Asyl. In Großbritannien setzte sich im 17. Jahrhundert Oliver Cromwell dafür ein, die im 12. Jahrhundert aus England vertriebenen Juden wieder zurückzuholen. Dadurch wollte er die Entwicklung u.a. im Bereich von Handel und Medizin fördern. Auch dort gebe es Antisemitismus, so Ernest Kolman. Aber er geht davon aus, dass die Briten klüger seien, und eine Entwicklung wie in Deutschland nicht zulassen würden, weil sie immer die Gefahr berge, dass sich derartige Bewegungen letztlich auch gegen Mitglieder der eigenen Gemeinschaft richten.

In den ersten Jahren des Deutschen Kaiserreichs prägte der bekannte Berliner Geschichtsprofessor Heinrich von Treitschke 1879 den Satz »Die Juden sind unser Unglück.« Ernest Kolman bezeichnet es als unverständlich, dass ganz normale anständige Leute solchen und anderen Parolen folg(t)en. Kaiser Wilhelm sei zwar kein Antisemit gewesen, aber die ganze Diskussion war ihm mehr oder weniger gleichgültig. Jüdische Freunde, die er hatte, seien vor allem nützlich für ihn gewesen, so Kolman. Und der persönliche Kaplan, mit einem erheblichen Einfluss auf den Kaiser, habe statt Gottes Liebe zu allen Menschen vor allem einen Hass auf die Juden im Herzen gehabt. Und trotz der Verkündigung des Burgfriedens im Jahr 1914, lebte der Antisemitismus weiter.

Zum Ende des Krieges behauptete man, das deutsche Heer wäre im Feld nie geschlagen worden, und gab den Juden zusammen mit Kommunisten und Sozialisten die Schuld an der Niederlage. Die Dolchstoßlegende entfaltete eine grausame Macht. Auch den durch die Kriegsfolgen bedingten wirtschaftlichen Niedergang schob man den Juden in die Schuhe. Menschen, die wie der deutsch-jüdische Außenminister Walter Rathenau in dieser schwierigen Situation Verantwortung übernahmen, wurden auf offener Straße ermordet.

35:10 - 38:43

Der Aufschrei blieb aus

Es gab auch damals intelligente Menschen, von denen man annehmen hätte können, dass sie die Lügen eines Fanatikers wie Adolf Hitler durchschauen, als dieser versprach, jeder bekomme Arbeit, und dafür – in den Worten Ernest Kolmans – geklautes Geld benützte. Aber so unverständlich das sei, niemand habe etwas gesagt, alle hätten sie es widerspruchslos geschluckt. Viele sahen in den Jüdischen Professoren und Lehrern eine Konkurrenz. Man sprach es diesen Lehrkräften ab, deutschen Geist an die Schüler und Studenten vermitteln zu können und entließ sie aus ihrem Dienst. Schon früh (Anm.: im Mai 1933) wurden die Schriften jüdischer Intellektueller verbrannt. In diesem Zusammenhang weist Ernest Kolman auf den deutsch-jüdischen Dichter Heinrich Heine hin, der schon 100 Jahre zuvor meinte, wer heute Bücher verbrenne, der werde morgen auch Menschen verbrennen.

Auch einen anderen Ausspruch Heines hat Kolman im eigenen Leben als Wahrheit erfahren. Er sei oft in der Nacht aufgewacht und habe sich an dessen Worte »Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.« erinnert.

38:43 - 42:02

Umzug wegen der Anfeindungen nach Köln

Um dem Judenhass in der Kleinstadt Wesel zu entkommen, zog die Familie von Ernest Kolman nach Köln. Dort kam er in eine kleine jüdische Volksschule, wo man ihn zunächst einmal wegen seiner Schiefertafel mit Schwamm auslachte. Außerdem hatte er bis dahin nur Sütterlinschrift gelernt (Anm.: deutsche Schreibschrift für Schulanfänger, die 1942 verboten und durch die lateinische Schreibschrift ersetzt wurde). Doch er gewöhnte sich schnell um.

Den deutschen Drill, wie ihn Ernest Kolman nennt, gab es auch in der jüdischen Volksschule. Gleich zu Beginn machte ihm der Lehrer klar, dass er ihm das, was er nicht lernen könne oder wolle, mit dem Stock beibringen werde. Bis dahin hatte er solche Unterrichtsmethoden nicht gekannt, aber in dieser Schule sei der Stock das übliche Werkzeug gewesen, um den Schülern Lieder, Gedichte oder das 1x1 beizubringen. Doch damals wie heute, sagt Ernest Kolman, sei er jemand, der sich das nicht einfach gefallen lasse.

42:02 - 47:06

Massenfanatismus

Der Preis der Freiheit sagt Ernest Kolman, sei ewige Aufmerksamkeit. Die Deutschen, so Kolman, hätten davon leider keinen Gebrauch gemacht, und sich im Rausch starker Gefühle für Land, Blut und Ehre – Begriffe, die seiner Meinung nach nicht zusammengehören – gegen Minderheiten wie die Juden gewendet. Sie waren die schwarzen Schafe.

Bis heute begreift er nicht, wie normale erwachsene und intelligente Menschen da in Reih und Glied stehen, die Hände erheben und »Heil Hitler« mitschreien konnten. Man sang: »Kameraden, Soldaten! Fangt die Juden, stellt die Bonzen an die Wand. Wenn das Judenblut in Strömen fließt, dann geht´s nochmal so gut. Kameraden, Soldaten! Hängt die Juden, stellt die Bonzen an die Wand.«

1938 hatte die Familie Kolman Besuch von einem rumänischen Journalisten. Weil dieser zwei Karten für den Karnevalsumzug hatte, durfte Ernest mitgehen. Und obwohl Goebbels einmal gesagt hatte, wer Jude ist, könne man riechen, fiel er nicht auf. Aber der Umzug sei schrecklich gewesen, erinnert sich Ernest Kolman. Es wurden Juden mit riesigen Nasen, dicken Bäuchen und Geldsäcken gezeigt. Eine Darstellung war, wie Juden ein schönes deutsches Mädchen vergewaltigten. Damals war er elf Jahre alt. Nach dem Krieg beschwerte er sich bei den Organisatoren. Doch als Antwort bekam er: »Was konnten wir tun?« – eine Ausrede, die oft zu hören war.

47:06 - 56:52

Reichskristallnacht und ihre Hintergründe

1938 verfrachtete man die sogenannten Ostjuden - Juden, die in Polen geboren waren und in Deutschland lebten - an die deutsch-polnische Grenze, wo die Polen sie aber nicht ins Land lassen wollten. Die Deutschen wollten sie nicht wieder zurücknehmen. Viele wurden geschlagen und missbraucht, bis man sie endlich doch nach Polen rein ließ.

Zu dieser Gruppe misshandelter ostjüdischer Menschen gehörten auch die Eltern des 17jährigen Herschel Grünspan (Anm.: auch Grynszpan), der selbst zwei Jahre zuvor aufgrund der Verhältnisse in Deutschland nach Frankreich emigriert war. Von den Ereignissen an der deutsch-polnischen Grenze aufgebracht, drang er (Anm.: am 7. November) in die deutsche Botschaft in Paris ein und schoss dort auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath, der wenige Tage später seiner Verletzung erlag.

Für die Nationalsozialisten war dies das Signal zu einem »Fest des Bluts und der Rache« an den Juden. Ernest Kolman selbst war mit seiner Mutter in der Wohnung in Köln, die vier Hausnummern von der großen Synagoge entfernt war. Vom Fenster aus sahen sie Rauch und Flammen aufsteigen, und eine Feuerwehr, die nichts unternahm. Gegenüber der brennenden Synagoge stand eine große Menschenmenge, die zuschaute. Später fragte sich Ernest Kolman, wo eigentlich all die christlichen Geistlichen waren, warum niemand diesen Frevel als Gotteslästerung anprangerte.

Das vorherrschende Gefühl der jüdischen Menschen zu dieser Zeit war Angst. Jedes Mal, wenn es an der Tür klingelte, bebte man vor Angst. An diesem Tag waren es die Nachbarinnen, die leise mit seiner Mutter sprachen. Diese holte dann eine Schachtel – vermutlich mit Geld und Schmuck gefüllt – und gab sie den Frauen. Zu ihrem Sohn sagte sie, er solle mit den Nachbarinnen mitgehen.

Oben in der Wohnung der Nachbarin, sollte er sich dann in einem Schrank verstecken. Der Schrank war wenigstens mit Kissen ausgelegt, erinnert er sich. Die Frau schloss die Tür und befahl ihm ganz leise zu sein, vor allem wenn er Schritte hören sollte. Voller Angst sei er gewesen, schildert Ernest Kolman die Situation, er habe gezittert und gebebt.

Abends kam dann die Mutter hoch und meinte, das Schlimmste sei wohl vorbei. Doch zunächst hatte er Angst, ihr zu folgen. Als sie in der Wohnung waren, klingelte es. Es war der protestantische Chauffeur des Vaters, der seiner Mutter berichtete, dass er den Vater bei sich und seiner Mutter in Sicherheit gebracht habe. Er würde ihn dortbehalten, bis sich die Situation wieder etwas beruhigt habe. Damit riskierte er – wie die Nachbarinnen – selbst Kopf und Kragen. Deshalb widerspricht Ernest Kolman auch regelmäßig, wenn andere alle Deutschen als Naziverbrecher verurteilen. Die Kristallnacht bezeichnete er selbst immer als Ouvertüre zum Holocaust.

56:52 - 1:08:40

Aufnahme in England

Das Ausland nahm die Ereignisse in Deutschland kaum zur Kenntnis, sagt Ernest Kolman. Eines der wenigen Länder, das Zuflucht gewährt hat, sei England gewesen. Dort hat man 10.000 Kinder von Juden und anderen Verfolgten aufgenommen. Aber auch hier gab es Beschränkungen. Es konnten nur Kinder unter 16 Jahren kommen. Eltern und andere Verwandte durften nicht mitreisen.

So kam er als 12-Jähriger nach England. Er kann sich noch genau an die Situation erinnern, als man ihnen sagte, dass sie vielleicht nie mehr nach Hause könnten. Und so kam es auch, weil zwischenzeitlich die Deutschen in Polen einmarschiert waren und England nach einem verstrichenen Ultimatum am 3. September dem Deutschen Reich den Krieg erklärte. Die Kinder und Jugendlichen wurden zu fremden Leuten auf das Land geschickt, die selbst keine Juden waren und mit dem jüdischen Glauben wenig anfangen konnten. Ernest Kolman vergleicht die Situation mit einem Viehmarkt oder einer Lotterie. Es waren freundliche Leute darunter, aber leider auch solche, die die jüdischen Kinder vor die Türe gesetzt, und deren Essensration ihren Tieren gegeben haben.

Als er sich morgens auf den Schulweg machte, drückte ihm die Frau, bei der er untergebracht war, einige Pennys in die Hand, mit denen er sich für den Tag versorgen sollte. Damit ging er zum Bäcker und fragte dort nach altem Brot und Kuchen für wenig Geld.

Für viele Engländer gehörten sie als Deutsche zum Feind. Auch in der englischen Volksschule waren sie nicht sehr beliebt. In Deutschland hatten sie eine gute Bildung u.a. in Hebräisch und Latein bekommen, teilweise hatten sie auch Englisch gelernt. Von den englischen Schülern wurden sie mit »Ihr verdammten Deutschen.« angepöbelt, was nicht viel besser war als »Ihr verdammten Juden.«, meint Ernest Kolman.

Dann setzten die deutschen Fliegerangriffe ein. Man wollte die englischen Städte in Schutt und Asche legen, was zum Glück, wie E. Kolman betont, nicht gelang. Hätten sie Großbritannien eingenommen, wären sie wahrscheinlich auf noch heftigere Gegenwehr als in Frankreich, Holland oder Norwegen gestoßen, meint Ernest Kolman. Er erinnert an die Erfahrungen der Deutschen mit Bombardierungen der Condor Legion während des spanischen Bürgerkriegs 1936.

Zum Ende seines Vortrags bedankt sich Ernest Kolman bei den aufmerksamen Zuhörern.

1:08:40 - 1:15:15

Das Schicksal der Mädchen Ruth und Rosemarie Marx

Über seinen Onkel Eugen Marx berichtet Ernest Kolman, dass man ihn 1933 zusammengeschlagen und in ein KZ gesperrt hat, von wo aus man ihn freikaufte. Danach kam er zur Familie der Schwester nach Köln. Ernest Kolman weiß noch, wie ihn der Anblick des von den Nazis kahlgeschorenen Onkels erschreckt hat. Dessen Frau starb sehr jung ein Jahr später, und seine Mutter nahm sich der beiden Mädchen an.

Er erinnert sich, dass die jüngere der beiden noch gewickelt werden musste, und er regelmäßig mit Ruth und Rosemarie gespielt hat. Seine Schwester, die selbst vier Konzentrationslager überlebt hat, erzählte ihm später, dass kurz nachdem er nach England ging, alle Juden in sogenannte Judenhäuser umgesiedelt wurden. Die beiden Töchter von Eugen Marx wurden in ein Waisenhaus gebracht.

Dann kam der Tag – er vermutet im Jahr 1940 – als man die jüdischen Kinder aus den Waisenhäusern geholt, sie zusammen mit anderen Juden ohne Essen und Trinken in Viehwaggons gepfercht und nach Russland in die Nähe von Minsk gebracht hat. Seine Eltern wurden nicht mit deportiert, weil die Mutter krank war. Als der Transport am Zielort ankam, mussten sie die Kleider ausziehen, denn die würde Deutschland brauchen. Vor ihnen war schon ein großer Graben ausgehoben. Ohne Gnade wurden alle – über 1000 Menschen einschließlich seiner beiden Cousinen – erschossen. Sie seien nicht in heiliger Erde bestattet worden, meint Ernest Kolman, und doch habe Gott auch sie in der Hand.

1:15:15 - 1:17:54

Der Onkel Eugen Marx

Seinen Onkel, Eugen Marx, dem noch die Flucht gelang, bezeichnet er als seinen Helden. Er sei ein lieber Mann und ein Patriot gewesen. Er habe im Ersten Weltkrieg gedient und in einer Fußball-Auswahl gespielt, berichtet Ernest Kolman. Außerdem habe er ihn als Jungen öfters zu Fußballspielen und Autorennen mitgenommen. Wenn sein Onkel zu Krankenbesuchen in die umliegenden Dörfer fuhr, kam Ernest Kolman des Öfteren mit, wenn er gerade zu Besuch im Schwarzwald war. Die Menschen im Schwarzwald seien freundlich gewesen, erzählt er, und sein Onkel war ein beliebter Mann.

Bis sich eines Tages ein Kurgast in Bad Teinach mit einem Brief bei der Ärztekammer beschwerte, weil er nicht von einem jüdischen Arzt behandelt werden wollte. Als ein weiteres ihm völlig unverständliches Beispiel, nennt E. Kolman die Frage schwer verwundeter deutscher Soldaten vor einer Blutübertragung, ob es denn auch reines deutsches Blut sei. Kein normaler Mensch würde verstehen, warum Menschen lieber sterben würden, als das Risiko einzugehen, dass das Blut, das ihnen übertragen wird, eventuell von einem Juden stammt.

1:17:54 - 1:26:39

Wie umgehen mit der Vergangenheit?

Ernest Kolman geht nochmals auf das Schicksal der Cousinen ein. Er betont, dass sie ermordet wurden – zwei kleine unschuldige Mädchen. Die Zuhörer fordert er auf, nachzudenken und sich vorzustellen, wie sie sich fühlen und was sie denken würden, wenn es die eigenen Kinder wären. Ob sie wohl Rache üben und die Mörder ewig verfluchen würden? Das gehe nicht, sagt er. Er denke auch nicht so. Und doch weist er die Zuhörer darauf hin, dass auch hier auf ihnen Schuld lasten würde, weil ihre Vorfahren schuldig geworden seien – vielleicht nicht selbst als Mörder, aber weil sie ein Regime geduldet haben, das das als normal ansah.

Bis heute hat Ernest Kolman Fotos der beiden Mädchen aufbewahrt. Eine seiner Nichten trägt zum Andenken an Ruth Marx ebenfalls den Namen Ruth.

Wie lange und wie oft er dieser Aufgabe (Anm. die Erinnerung wachzuhalten) noch nachgehen kann, weiß er nicht.

2015 hat ihn die Bürgermeisterin von Wesel gefragt, ob er die Ehrenbürgerschaft der Stadt annehmen würde. Als eine Person, die nichts mit den Deutschen zu tun hat, von der Anfrage hörte, meinte sie zu ihm: »Du hast selbstverständlich nein gesagt?!« Seine Erwiderung darauf war: »Du dumme Kuh.«, denn für ihn war es selbstverständlich, dass er ja sagen würde. So hat er es nach mehr als 80 Jahren vom Untermenschen zum Ehrenbürger gebracht.

Dr. Eugen Marx kam im Jahr 1958 noch einmal zurück nach Neuweiler, wie einer der Zuhörer berichtet. Mit Ernest Kolman hat Eugen Marx aber nie darüber gesprochen, wie diese Begegnung mit dem alten Wirkungsort verlief, und wie er über Neuweiler und seine Bewohner dachte. Doch Gabriel Stängle kann aus seinen Nachforschungen von einem Briefwechsel zwischen dem damaligen Bürgermeister in Neuweiler, Friedrich Hanselmann, und Eugen Marx berichten.

1:26:39 - 1:35:05

Bedeutung der Bildung

Über die Frage, ob er auch in England Vorträge als Zeitzeuge halte (was er nur selten macht), kommt Ernest Kolman auch auf seine Bildung zu sprechen. Schmunzelnd meint er, dass er noch ein wenig Deutsch könne, auch wenn es bald 80 Jahre her sei, dass er das letzte Mal auf einer deutschen Schulbank gesessen habe. Mit 14 Jahren musste Ernest Kolman die Schule verlassen, um zu arbeiten. Sein Abitur hat er mit 45 Jahren gemacht – mit einer Prüfung in Deutsch als Fremdsprache. Als die damalige Prüferin zu ihm meinte: »Sie sprechen ganz gut Deutsch.«, gestand er ihr nicht, dass er in Deutschland geboren war. Der Grund, dass er sein Abitur noch nachholte, war, dass sein ältester Sohn sich zu jener Zeit in den Vorbereitungen auf das Abitur befand. Dass alle seine Kinder und Enkelkinder ihre Abschlüsse so gut gemacht haben, habe er seiner Frau zu verdanken. Ihr Standpunkt war immer, dass sie die beste Ausbildung bekommen müssten, die sie sich leisten könnten. Denn wenn auch sie einmal verfolgt und ihre Arbeit verlieren würden, könnte ihnen doch keiner das, was sie im Kopf haben, nehmen. Ernest Kolman meint, jeder Pfennig, der für die Bildung der Kinder und Enkelkinder ausgegeben werde, sei gut investiert. Er hat fünf Enkelkinder und jedes von ihnen hat die Universität besucht. Zu den USA, wo seine Enkelkinder leben, hat Ernest Kolman ein zwiespältiges Verhältnis. Es sei nicht alles gut dort, meint er. Aber eines müsse man doch festhalten, es sei ein Land der Freiheit, und schon in der Verfassung stehe, dass alle Menschen gleich seien.

1:35:05 - 1:41:27

Schlussworte

Es war jetzt das zweite Mal, dass Ernest Kolman in einer Kirche gesprochen hat. Das erste Mal war in Wesel, wo er immer wieder zu Veranstaltungen zu Besuch ist. Zum Abschluss ermutigt er die Besucher doch ruhig einmal in eine Moschee oder eine Synagoge zu gehen, wenn sich die Gelegenheit biete, denn der Gott, der da wohne, sei der gleiche, wie der der Zuhörer.