Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Asher Ud

Vortrag am 27. Januar 2015 in Bad Liebenzell, Deutschland

Asher Ud kam 1928 in der kleinen Stadt Zduńska Wola in Polen zur Welt. 1940 wurde er mit seiner Familie ins Ghetto umgesiedelt. Erst wurde der Vater abtransportiert, dann verloren sich auch die anderen Familienmitglieder. Schon früh war Asher Ud somit auf sich allein gestellt. Noch ein Kind und schwer krank, versuchte er sich mit Arbeit durchzuschlagen. 1944 kam er nach Auschwitz, wo er auf seinen älteren Bruder Berl traf. Er überlebte den Todesmarsch und wurde am Kriegsende aus dem KZ Gunskirchen befreit. Noch 1945 wanderte Asher Ud als Jugendlicher nach Israel aus und baute sich dort ein neues Leben - zuerst beim Militär, dann als Schlosser - auf. Bis er seinen Bruder wiederfand, dauerte es fast 40 Jahre. Erst in fortgeschrittenem Alter begann er über sein Schicksal zu sprechen. Am 29. August 2016 verstarb Asher Ud in Jerusalem.

Kurzbiografie

Asher Ud aus Jerusalem hieß nicht immer so: 1928 kam er als Anschel Sieradzki in Zduńska Wola in Polen zur Welt. Sein Vater, Schmuel Hirsch Sieradzki war Schneider, seine Mutter hieß Jocheved. Er hatte noch zwei Brüder, einen älteren Bruder namens Berl und einen jüngeren namens Gabriel.

1940 musste die Familie ins Ghetto ziehen. Der Vater und der ältere Bruder wurden bald weggebracht. Als man das Ghetto 1942 auflöste, wurden Ashers Mutter und Gabriel deportiert und ermordet. Asher kam alleine ins Ghetto nach Lodz. Auch dieses Ghetto wurde 1944 aufgelöst, nun ging es nach Auschwitz, wo er seinen Bruder Berl wieder traf. Ascher Ud konnte arbeiten und durfte leben.

Wenige Wochen vor der Befreiung von Auschwitz nahmen die Nazis Asher Ud mit vielen anderen auf den »Todesmarsch«. Der Weg von Asher Ud führte noch ins KZ Mauthausen und KZ Gunskirchen. Recht früh nach der Befreiung durch die alliierten Streitkräfte kam er über Italien nach Israel. Er kämpfte im Unabhängigkeitskrieg des 1948 neugegründeten Staates und arbeitete danach als Schlosser in der Militärindustrie. Nachdem er in den Ruhestand kam, half er ehrenamtlich in Einrichtungen für Holocaustüberlebende.

Bis 1991 schwieg Ascher Ud über seine Erlebnisse während des Holocausts. 1993 reiste er nach Polen und errichtete einen Gedenkstein für die ermordeten Juden über einem Massengrab. Unter den 219 Menschen, die dort begraben waren, könnten seine Mutter und sein jüngerer Bruder sein. Seitdem schilderte er seine Erinnerungen Schülern, Studenten und Soldaten. »Anscheinend bin ich am Leben geblieben, um es den kommenden Generationen zu erzählen. Das ist die hauptsächliche Bestimmung meines Lebens«, sagte er. Am 29. August 2016 ist Asher Ud verstorben.

Inhaltsübersicht

00:00 - 01:37

Vorstellung von Hans Bayer und Asher Ud

Hans Bayer, der seit 46 Jahren in Israel lebt, stellt sich und den 87jährigen Asher Ud vor. Asher Ud ist verheiratet, er hat drei Kinder und 10 Enkelkinder, die alle in Israel leben.

01:37 - 03:46

Auftritt mit zwiespältigen Gefühlen am 27. Januar

Zunächst beschreibt Asher Ud mit welch gemischten Gefühlen er heute vor dem Publikum in Bad Liebenzell-Maisenbach steht. Er erinnert an die Gräueltaten, die durch die Nazis begangen wurden. Aber andererseits ist er auch etwas stolz darauf, in Deutschland an solch einer Zeremonie zum Holocaust-Gedenktag als Vertreter der überlebenden Juden sprechen zu dürfen. Manchmal fragt er sich, ob das Realität oder Illusion ist.

Weiter entschuldigt er sich für sein Deutsch. Normalerweise spricht er in Englisch. Aber im vergangenen Jahr in Berlin, als er auf Englisch geredet hat, war die Übersetzung so fehlerhaft, dass er begann, selbst auf Deutsch zu sprechen.

03:46 - 07:24

Kindheit in einer von Juden geprägten Kleinstadt

Asher Ud stellt sich vor. Sein Name bedeutet Überlebender. Er verweist auf ein Bibelzitat, wo es heißt »aus Feuer und Wasser habe ich dich gezogen«. Geboren wurde Asher Ud als Anschel Sieradzki. Die Namensänderung erfolgte nicht freiwillig. 1968 wurde er in einer offiziellen Mission ins Ausland geschickt, und jeder der das Land repräsentierte, musste einen hebräischen Namen tragen. Er entschied sich wegen der für ihn symbolhaften Bedeutung für Asher Ud.

Er kam in der kleinen Stadt Zduńska Wola in der Nähe von Lodz zur Welt. In dieser Stadt lebten bis zum 19. September 1939 ca. 32 000Einwohner, 12 000 davon waren Juden. Es gab in der Stadt Synagogen und eine jüdische Schule, auf die auch Asher Ud ging.

Seine Familie bestand aus fünf Personen: seinem Vater Schmuel Hirsch, seiner Mutter Jocheved, dem älteren Bruder Berl, dem jüngeren Bruder Gabriel und ihm. Der Vater hatte zuhause eine eigene Schneiderwerkstatt. Sie lebten in einem Zimmer ohne Wasser, die Toiletten waren über dem Hof etwa 100 m weg. Die Häuser waren dicht nebeneinander gebaut, und gingen hinten in einen Hof raus, den sich zwischen 20 und 50 Familien teilten. In seinem Straßenzug wohnten 30 Familien und nur eine davon war nicht-jüdisch, somit kann er über die Polen im Allgemeinen nicht viel sagen. Aber diese eine polnische Familie in seinem Quartier war immer am Samstag - also am Sabbat - dafür zuständig Feuer zu machen

07:24 - 11:38

Das Schicksal von Asher Uds Vater

So wie im vorherigen Abschnitt geschildert, verlief das Leben bis zum 19. September 1939. An diesem Tag marschierten die Deutschen in Zduńska Wola ein. Sie trieben alle Juden aus ihren Häusern und brachten sie in drei Straßenzügen unter, die von da an als Ghetto dienten.

Immer wieder gab es verschiedene Aktionen durch die Deutschen. Die erste war, dass man sie auf ein freies Feld im Ghetto trieb. Die Deutschen schnitten den Männern die Bärte ab und schlugen immer wieder zu. Am Ende zwang man sie, die Erhängung von zehn Leuten anzuschauen.

Etwas später gab es die nächste Aktion. Man holte wieder alle Menschen aus den Häusern und das Geschehen wiederholte sich. Wieder schnitt man den Männern die Bärte ab, schlug die Menschen und erhängte zehn von ihnen. Die einzige Schuld dieser zehn Leute war, dass sie Juden und die Leiter der Gemeinde waren.

Bei der nächsten Aktion selektierten die Deutschen alle Männer aus und brachten sie auf den Rathausplatz. Wieder schnitt man ihnen die Bärte ab und schlug sie. Drei Tage wurden sie dort festgehalten. Dann nahm man die jungen Männer, steckte sie ins Gefängnis in Sieradz und hielt sie dort mehrere Wochen fest. Auch sein Vater war darunter. Asher Ud versuchte sich aus dem Ghetto zu schleichen, um seinen Vater zu sehen. Dass er blaue Augen und blondes Haar hatte, war von Vorteil. Er wusste, dass es eine »Sieradzer Straße« gab, und dass die vermutlich nach Sieradz führen würde. Dort sah er eine Kutsche, von der die Leute sagten, sie würde nach Sieradz fahren. Als sie losfuhr, setzte er sich auf die hinterste Achse.

So kam er tatsächlich bis nach Sieradz und konnte seinen Vater sehen. Dafür nahm er auch die Striemen von der Peitsche in seinem Gesicht in Kauf. Denn jedes Mal, wenn er sich bewegte, schlug der Kutscher mit der Peitsche nach ihm. Doch das Wichtigste war für ihn, den Vater zu sehen. Zurück lief er dann die 14km lange Strecke.

Einige Wochen später wurde sein Vater freigelassen. Doch nicht lange, dann gab es die nächste Aktion. Man sammelte wieder viele Männer - dieses Mal um sie ins Lager zu schicken. Das war das letzte Mal, dass Asher Ud seinen Vater sah.

11:38 - 15:08

Harte Arbeit, um Geld zu verdienen

Auch im Ghetto braucht man Geld, um Essen zu kaufen. Sein 13jähriger Bruder arbeitete außerhalb des Lagers, doch als Kind verdiente er nicht genug, weshalb Asher Ud ebenfalls bei der Geldbeschaffung helfen musste. Er sammelte herumliegende Zigarettenstummel ein, um aus den Tabakresten neue Zigaretten zu drehen.

Dann gab es die nächste Aktion. Wieder wurden alle Männer zusammengetrieben, unter ihnen sein Bruder Berl mit 13 Jahren. Dieses Mal wurde Berl aussortiert und ins Lager geschickt. Nun musste Asher Ud arbeiten gehen. Weil er erst elf Jahre alt war, hatte er Angst, dass sie ihn nicht für die Arbeit nehmen würden. Morgens um halb fünf ging es los. Es war noch dunkel. Als sie sich in 5er Gruppen aufstellen mussten, stellte er sich in die Mitte. Er hat nicht gesagt, dass er das nicht könne, sondern er hat sich angestrengt. Sie mussten Häuser bauen und er hat sich bemüht zu zeigen, dass er ein guter Arbeiter ist. Zum Beispiel hat er nicht nur einen Sack Zement geschleppt, sondern gleich zwei.

Als er gemerkt hat, dass sie ihn für einen guten Arbeiter halten, hat er darum gebeten, dass man ihn Anschel Sieradzki nennt und nicht mehr Berl. Doch man ließ ihn als Kind nicht die Arbeiten innen im Haus verrichten, sondern er musste draußen bei den Fundamenten helfen. Sie arbeiteten in Schnee und Regen. Sie haben gefroren und trotzdem gearbeitet. Die Ukrainer, für die sie die Häuser bauten, passten auf sie auf. Sie gingen von einem zum anderen und schlugen sie mit Stecken. Jeder bekam zehn Schläge. Als ein Ukrainer zu ihm kam, lief er weg. Er musste zurückkommen und weiterarbeiten. Ob er zwanzig oder dreißig Schläge bekam, weiß er nicht mehr, aber als er umfiel, ging der Ukrainer weiter zum Nächsten.

Der Weg von der Arbeit ins Ghetto waren 7km. Dabei hatte er oft noch Kartoffeln bei sich, die er unter der Kleidung versteckt ins Ghetto schmuggelte.

15:08 - 18:36

Eingesperrt auf dem Friedhof

Nicht lange danach gab es die nächste Aktion. Wieder wurden alle aus den Häusern geholt. Dieses Mal wurden sie wieder auf das Feld getrieben, wo man die zwanzig Männer aufgehängt hatte. Die Deutschen schauten sich unter den Menschen um und fingen die Kinder mit einer Art Lasso ein, um sie dann auf Lastwägen zu werfen. Auch wenn jemand fiel, wurde er wie ein Sack Kartoffeln gepackt und auf einen Lastwagen geworfen.

Drei Tage lang wurden sie auf diesem Feld festgehalten. Nach drei Tagen brachte man sie auf den jüdischen Friedhof. Dort schickte man sie an das eine Ende des Friedhofs, der etwa 300m lang und ungefähr 200m breit und mit einer massiven Mauer drumherum eingefasst war. An den Längsseiten standen zwei Reihen deutscher Soldaten. Durch diese Reihen mussten sie durchgehen und bekamen Schläge mit Stöcken, Peitschen oder auch Stiefeln.

Er stand mit seiner Mutter und dem jüngeren Bruder neben dem Grab der Großmutter. Er stieg auf den Grabstein um besser zu sehen. Warum er das als Kind so schnell erfasst hatte, kann er nicht sagen, aber er riet der Mutter sich links zu halten. Vorne ging Gabriel, dann er und hinten seine Mutter. Die Schläge, die er selbst bekommen hat, hat er kaum gefühlt. Aber die, die seine Mutter und der jüngere Bruder abbekamen, haben ihm ins Herz geschnitten. So brachten sie etwa 2/3 der Länge hinter sich, als ein Deutscher vor ihm einen Stecken hinhält. Warum er das gemacht hat, weiß er nicht, aber er hat sich aufgerichtet, woraufhin der deutsche Soldat sagte: »Ja, der ist auch gut.« und ihn nach links schickte. Die linke Seite bedeutete Leben und die rechte der Tod.

Von den mehr als 12.000 Juden, die 1939 in Zduńska Wola gelebt haben, waren schon 1942 nur noch ca. 8.000 übrig. Über 4.000 waren schon getötet oder ins Lager geschickt worden. Von diesen 8.000 gingen etwa 1.000 nach links und der Rest nach rechts. Man ließ sie hinsetzen und gab ihnen Brot. Zur rechten Seite warf man nur Portionen hin. Fünf Tage waren sie auf dem Friedhof, als die Soldaten anfingen, neben Brot auch Steine in die Menge rechts zu werfen und wahllos hineinzuschießen. Die Menschen auf der anderen Seite mussten das zwei weitere Tage mit anschauen.

18:36 - 20:34

Deportation ins Ghetto Lodz

Nach zwei Tagen holte man sie vom Friedhof heraus. Dabei sah er seine Mutter und seinen Bruder. Man brachte sie mit Viehwaggons ins Ghetto von Lodz. Für die 48km war der Zug fünf Tage unterwegs. Einige Menschen starben auf der Fahrt. Auch Asher Ud fühlte sich schon dem Tode nahe. Sein Problem war, dass er zur Toilette musste, weil er sein Geschäft nicht im Waggon verrichten konnte.

Nach fünf Tagen öffnete sich die Tür. Ein jüdischer Polizeimeister sagte zu ihm: »Anschel geh runter.« Vor dem Waggon stand aber ein deutscher Soldat, der ihn fragte, warum er runter gegangen sei. Worauf er antwortete, dass ihm der jüdische Polizeimeister erlaubt habe, zur Toilette zu gehen. Der Soldat befahl ihm, sich vor der Wand aufzustellen. Er schoss mehrmals mit seiner Pistole, traf aber nicht. Dann ließ er ihn herkommen und setzte ihm die Pistole auf die Brust. Dabei fragte er ihn, ob er wohl Glück gehabt habe. Asher Ud betete schon fast darum, dass er endlich Schluss machen sollte. Doch nach einer gewissen Zeit schickte der deutsche Soldat ihn zum Waggon zurück und befahl ihm, als Letzter herabzusteigen.

20:34 - 22:01

Mit 13 Jahren auf sich allein gestellt

Als 13Jähriger, der eigentlich nie alleine von zuhause fort war, fand er sich nun alleine im Ghetto wieder. Er wusste nicht, was erlaubt war und was nicht. Er muss ohnmächtig geworden sein, denn als er wieder wach wurde, war es dunkle Nacht. Er schaute sich um und setzte sich in einem Haus auf die Treppe. Am nächsten Morgen ging er raus - immer noch völlig verunsichert darüber, was erlaubt war und was nicht. In der nächsten Nacht setzte er sich wieder auf die Treppe. Asher Ud kann nicht sagen, wieviel Zeit er so verbracht hat, aber mit der Zeit rebellierte sein Magen. Er beobachtete Menschen, die in einem Berg von Mist nach Essen suchten und schloss sich ihnen an. Er freute sich fast mehr über die anderen Menschen als über das Essen selbst.

22:01 - 24:52

Schwer krank und trotzdem bei der Arbeit

Asher Ud hört er von einer Fabrik, wo es Arbeit geben würde. Er ging hin und fragte um Arbeit. Man nahm ihn und er bekam jeden Tag eine Suppe. Er traf einen Burschen, der ihm ermöglichte, bei ihm und noch zwei anderen in einem Zimmer zu wohnen. So weit war es gut, aber er nahm ab und wurde schwach. Oft ging er auf allen Vieren. Bei der Arbeit gab man ihm eine Tätigkeit, bei der er auf einer Bank liegen konnte.

Aber er hatte ein anderes Problem. Mitten durch das Lager Lodz ging die elektrische Bahn. Damit man von einer Seite auf die andere kommen konnte, musste man über eine Brücke gehen. An der aber standen deutsche Soldaten. Wenn die gesehen hätten, wie er auf allen Vieren ging, wäre das sein Todesurteil gewesen. Sein Glück war, dass es noch dunkel war, wenn er morgens zur Arbeit ging, und wieder dunkel war, wenn er zurückkehrte.

Er weiß nicht mehr, wie lange das so ging. Weil er so krank war, dass er auch nichts mehr essen konnte, hat er seine Suppe verkauft. Doch eines Tages verspürte er wieder Appetit. Er aß seine Suppe und bat um noch eine Suppe. Er kam wieder zu Kräften, konnte auf seinen Füßen stehen und fühlte sich wieder als Mensch. Warum er ohne Hilfe und ohne Medizin eines Tages wieder auf eigenen Füßen stehen konnte, weiß er nicht.

Vor zehn Jahren war er wegen einer Magen-OP im Krankenhaus. Die Operation dauerte elf Stunden. Als seine Frau danach mit dem Arzt sprach und fragte, warum es so lange gedauert habe, erklärte er ihr, dass er die Milz herausnehmen musst. Sie sei ganz verklebt gewesen. Es würde aussehen, als ob er viele Jahre zuvor Typhus gehabt habe.

24:52 - 31:53

Wiedersehen mit dem Bruder

Dann wurde er nach Auschwitz transportiert. Wieder wurden sie in Viehwaggons verfrachtet. Als sich die Tür öffnete, wurde ihnen befohlen schnell durch die zwei Reihen zu laufen. Am Ende der Reihe stand Dr. Mengele, lässig mit der Hand im Jackett. Mit dem Daumen zeigte er an, wer für das Leben und wer für den Tod bestimmt war. Asher Ud hatte erneut Glück, er wurde ins Lager geschickt. Aber bevor sie ins Lager konnten, mussten sie sich ausziehen. Dazu schor man ihnen die Haare und desinfizierte sie. Dann mussten sie schnell laufen, um sich ein Hemd, eine Hose und zwei Schuhe aus dem Depot zu nehmen.

In Auschwitz gab es die Lager A bis E, dazu das Krankenhaus, wo an den Menschen Experimente durchgeführt wurden, und das Krematorium. Asher Ud kam in das Lager E Block 4. Tagsüber durften sie nicht in der Baracke bleiben. Wenn es kalt war, stellten sie sich draußen im Kreis auf. Die Kräftigsten sicherten sich einen Platz in der Mitte, wo sie von den anderen Körpern etwas vor der Kälte geschützt wurden. Er als Kind stand fast immer außen.

Eines Tages traf er auf Jakob Weinstein aus seiner Stadt. Der sagt zu ihm: »Anschel, Du bist da!« Weiter sagte er ihm, dass sein Bruder Berl auch hier in Auschwitz sei. Er war erstaunt, dass Asher Ud nicht liquidiert worden war. Dieser näherte sich darauf dem Lager D, wo Berl untergebracht war. Zwischen den Lagern verlief der elektrische Zaun. Er rief nach seinem Bruder, doch es kam jemand anderes. Ihm wurde erklärt, dass Berl bei der Arbeit sei und erst am Abend zurückkommen würde.

Als er zurückkam, war wieder Appell. Man ließ die Kinder heraustreten, gab ihnen etwas Brot und schickte sie in Block 22. Dort wurden sie eingeschlossen, damit sie sich nicht noch einmal anstellen und eine zweite Portion Brot holen konnten. Nun wusste er nicht was tun - er wollte zu seinem Bruder gehen, war aber im Block eingeschlossen.

Er ging zum Block, wo deutsche und polnische politische Gefangene untergebracht waren. Er ging zu einem Polen und sagte, er müsse zur Toilette. Es gab nicht für jeden Block eine Toilette, sondern nur eine für das ganze Lager. Der Pole nahm sein Brot und sagte, er müsse aber schnell zurück sein. So lief Asher Ud los und suchte Jakob Weinstein. Er sagte diesem, dass er in Block 22 eingeschlossen sei.

In diesen Block wurden 1.200 Kinder eingesperrt. Sie lagen dicht an dicht auf dem Boden, immer seitenverkehrt - also immer zwischen zwei Köpfen die Füße des anderen. Man ging zwischen den Reihen durch und schlug wahllos auf die Jungen ein, damit sie still waren. Asher Ud meinte jedoch, jemanden zu hören, der »Anschel Sieradzki« rief. Aber er dachte, seine Phantasie spiele ihm einen Streich.

Doch als er und die anderen am nächsten Morgen um halb fünf geweckt wurden, wurde ihm gesagt, dass am Abend zuvor das ganze Lager »Anschel Sieradzki« gerufen habe. Sein Bruder hatte versucht durch den elektrischen Draht zu kommen, um ihn zu suchen. Er ging zum Zaun und sah dort auf der anderen Seite seinen Bruder stehen. Der fragte ihn:« Anschel, das bist du?!« Er war nur noch ein Skelett. Sein Bruder ging zurück in seinen Block und kam mit Brot und Wurst zurück, das er durch die Absperrung warf. Er versprach am nächsten Morgen um sieben in sein Lager zu kommen. Er kam tatsächlich, und auf dem Weg durch das Lager hat er ihn mit vielen wichtigen Leuten bekannt gemacht. Jeder der ihn sah, steckte ihm etwas zu essen zu, weil er so ausgehungert aussah. Abends ging Berl wieder in sein Lager zurück.

Nach ein paar Tagen ging der Blockwärter durch die Reihen und fragte die Kinder, wer von ihnen mit Kartoffeln arbeiten wollte. Alle der 1.200 Jungen - bis auf zwei - wollten das natürlich. Nur einer war zu krank und Asher Ud wollte lieber bei seinem Bruder bleiben. Das war sein großes Glück, denn der Weg der anderen führte nicht in die Kartoffeln, sondern ins Krematorium.

31:53 - 33:30

Asher Ud übersteht viele Selektionen

Danach wurde der Block wieder mit 1.200 Kindern aufgefüllt. Es gab wieder einen Appell. Man nahm einen Jungen, der schon 1,70m groß war, legte ihm ein Brett auf den Kopf und stellte ihn gegenüber einer Wand auf. Alle anderen mussten darunter durchlaufen. Nur wer zu groß war, um darunter durchzulaufen, durfte am Leben bleiben. Wieder blieben von 1.200 Kindern nur zwei Jungen übrig. Asher Ud hatte das Glück, dass ihn Freunde von seinem Bruder Berl versteckten, sonst wäre er auch getötet worden.

Eines Tages kam einer der politischen Gefangenen zu ihm und sagte zu ihm: »Anschel, ich bin ein Freund deines Bruders Berl. Ich nehme dich mit zur Arbeit.« An dieser Stelle krempelt Asher Ud den Ärmel des linken Arms hoch. Als der Freund des Bruders ihn mit zur Arbeit nahm, bekam er hier eine Nummer eintätowiert. Er sagt, das sei eine Art Versicherung gewesen. Wenn Appell war, musste er den linken Arm vorstrecken. Die Deutschen gingen durch die Reihen und erkannten an seiner Nummer, dass er ein Arbeiter war. So hat Asher Ud viele Selektionen überlebt.

33:30 - 34:41

Fliegeralarm

Wenn sie aus dem Lager raus zur Arbeit gingen, kam es öfters vor, dass es unterwegs Alarm gab. Die Arbeiter mussten still auf der Stelle stehen bleiben, während die Deutschen wegliefen. Einmal gab es auf dem Heimweg von der Arbeit wieder einen Alarm, der mehrere Stunden dauerte. Wegen dem Alarm kamen sie zu spät zurück ins Lager. Das betraf viele Arbeiter. Aus dem Block mit den Kindern war er der Einzige, der zur Arbeit ging. Als er dann zurück in die Baracke kam, musste er sich nackt ausziehen und auf den Boden legen. Dann bekam er 35 Peitschenhiebe. Das war nicht das einzige Mal, dass er so eine Strafe bekam.

34:41 - 37:51

Von Auschwitz nach Mauthausen

Als die Russen vorrückten, holte man sie aus dem Lager Auschwitz und schickte sie auf einen Todesmarsch Richtung Mauthausen. Tag und Nacht mussten sie gehen. Wenn es Rast gab, lagen sie in Schnee und Eis auf der Straße. Wer nicht mehr aufstehen oder weitergehen konnte, wurde erschossen. Eines Morgens konnte auch Asher Ud nicht mehr aufstehen, weil die Kleidung im Eis festgefroren war. Er schaffte es aber, sich aus der Kleidung zu befreien, so dass er doch aufstehen und dann die Kleidung herausziehen konnte.

In Mauthausen gab es wieder verschiedenen Blöcke, in denen russische und polnische Gefangene untergebracht waren. Die Juden wurden auf die Blöcke aufgeteilt. Sie hatten eine besondere »Pflicht«: Wenn die Deutschen in die Blöcke kamen, stellten sie sich in die Mitte. Die Polen oder Russen setzen sich außen herum im Kreis, und die Juden mussten wie Hunde auf allen Vieren rundherum gehen. Die Deutschen schlugen dann mit Stöcken und Peitschen auf sie ein.

Etwas später wurden auch die Juden aus Ungarn nach Mauthausen gebracht. Da das Lager aber schon überfüllt war, baute man unten im Ort ein Zeltlager auf, wo die Juden untergebracht wurden. Auch das Lager war bald überfüllt. Dann kamen deutsche Flieger und warfen Bomben nieder. Viele Menschen wurden getötet.

Dann hörte man auch in Mauthausen die russische Armee näher rücken. Asher Ud berichtet, dass Mauthausen ein Lager der Toten war. Jeden Tag seien viele Menschen gestorben. Eines Nachts lag er zwischen mehreren Toten auf der Pritsche. Als er sich einen Platz auf einer anderen Pritsche suchen wollte, musste auch erst über Tote am Boden steigen.

37:51 - 40:45

Kriegsende. Hilfe von den Amerikanern

Nach einer gewissen Zeit, stellten sie fest, dass die Deutschen wegliefen. Das Lager befand sich in einem großen Wald und es dauerte einige Stunden, bis sie man auf einen Hauptweg kam. Dort sahen sie amerikanische Panzer. 22 Jugendliche kamen dort in einer leeren Villa von Deutschen an einem Ort namens Hörsching zusammen. Die Amerikaner gaben ihnen Kleidung und zu essen, aber das war nicht genug für sie. Deshalb schlichen sie sich nachts in das amerikanische Lager und stahlen noch mehr Essen von den Lastwägen. Damit gingen sie am nächsten Morgen in die österreichischen Dörfer und tauschten es gegen Eier und Hühner. Er selbst aß 12 Eier zum Frühstück. Das ging nicht lange gut und alle wurden krank. 21 mussten ins Krankenhaus und 4 davon starben. Danach wurden sie zivilisierter, sagt Asher Ud.

Jeden Nachmittag um vier gingen sie zum Flugplatz der Amerikaner. Jeder der Jungen hatte dort einen amerikanischen Piloten als Paten. Er bekam Schokolade und andere gute Sachen und sie sprachen miteinander. »Sein« Pilot wollte den Kommandanten darum bitten, dass er ihn mit nach Amerika nehmen könne. Der Kommandant wollte es aber nicht erlauben, doch sein Pilot meinte, er würde trotzdem einen Weg finden. Es gingen einige Wochen ins Land, in denen sie darüber sprachen. Eines Tages kam er zum Flugplatz und dann stand dort statt des Zeltes ein Flugzeug. Der Pilot sagte zu ihm: »Anschel, du gehst jetzt nach Amerika.« Aber hier waren sie 18 Brüder, die er nicht verlassen wollte. So kehrte er zur Villa zurück.

40:45 - 43:20

Beim Militär

Etwas später kam die jüdische Brigade, die zusammen mit der britischen Armee gekämpft hatte. Sie nahmen sie von Österreich mit nach Italien, wo sie 6 Monate Hebräisch lernten. Es war November 1945. Sie waren 400 Kinder, die die letzte Erlaubnis erhielten, nach Israel einzureisen. Dort kamen sie in eine Landwirtschaftsschule, wo sie einen halben Tag lernten und einen halben Tag arbeiteten. Nach zwei Jahren war die Schule beendet. Dann gab es den Befehl, entweder ein Jahr in der Hagana (Anm.: zionistische paramilitärische Untergrundorganisation) oder zwei Jahre in der Palmach (Anm.: paramilitärischer Zweig der Hagana für Jugendliche) zu dienen. Asher Ud entschied sich für die Hagana und wurde Hilfspolizist bis zum Unabhängigkeitskrieg 1948. Dann wurde er Soldat und hat unter anderem in Galiläa gekämpft. Nach zwei Jahren ließ er sich vom Militär befreien und ging völlig mittellos nach Jerusalem, wo er wieder ganz auf sich allein gestellt war. Er wollte noch einmal etwas lernen und ging auf die Schlosser-Schule. Nach der Ausbildung fand er einen Arbeitsplatz in der Militärindustrie. In diesem Betrieb blieb er 40 Jahre. Auch geheiratet hat er und drei Kinder sowie zehn Enkel bekommen.

43:20 - 46:05

Seine Motivation

Über diese sechs Jahre Hölle, wie er sie hier in seinem Vortrag beschrieben hat, hat er mit seinen Kindern lange nicht gesprochen - mehr als 50 Jahre nicht. Aber so wie die Holocaust-Leugner beschlossen haben, die Verbrechen zu leugnen, so haben er und andere Überlebende beschlossen, dass sie über diese Zeit reden müssen. Er findet es wichtig, dass die Menschen nicht nur in Büchern darüber lesen und sich in Filmen informieren, sondern dass sie es selbst von einem Menschen, der das erlebt und überlebt hat, hören, so dass es unter die Haut geht. Er spricht viel vor Schülern und Soldaten, auch um sie zu motivieren, für ihr Land einzustehen, damit Israel weiter existieren kann.

46:05 - 50:45

Wiedersehen mit dem Bruder

Bis 1983 - also fast 40 Jahre nach Kriegsende - wusste Asher Ud nicht, dass sein Bruder Berl noch lebt. Es kamen zu der Zeit immer wieder deutsche Touristen, die die Begegnung mit einer israelischen Familie suchten. Eines Tages bekamen sie Besuch von sehr frommen Leuten, die freitags und samstags den Sabbat feierten und sonntags in den Gottesdienst gingen. Als sie ins Gespräch kamen, stellte sich heraus, dass die Familie von Ostberlin war. Als Künstler waren sie in ganz Osteuropa unterwegs. Sein Sohn meinte, dass sie vielleicht herausfinden könnten, ob von seiner Familie noch jemand lebt, wenn sie so viel im Ostblock unterwegs waren.

Er gab ihnen den Namen mit - Berl Sieradzki aus Zduńska Wola - und das Ehepaar konnte ihn tatsächlich ausfindig machen. Dieses Künstler-Paar hat dem Bruder daraufhin zwei Briefe geschickt, die er unbeantwortet ließ. Erst als sie ihm ein Päckchen schickten, antwortete er auch. Warum weiß Asher Ud nicht - vielleicht aus Angst vor dem KGB. Das Paar sagte ihm dann, dass sie nicht ihn, aber seinen Bruder in Israel kennen würden. Asher Ud telefonierte dann mit Berl. Nach dem Mauerfall lud er ihn nach Israel ein. Er besuchte ihn für einen ganzen Monat. Als dieser wieder zurückgekehrt war, rief er wieder bei der Familie des Bruders an. Doch dieses Mal war der Sohn von Berl dran. Dem versuchte Asher Ud zu erklären, dass er sein Onkel Anschel sei. Der Junge gab aber zur Antwort, dass er keinen Onkel Anschel habe und sein Vater auch sonst keine Geschwister hätte. Daraufhin sagte Asher Ud, dass er doch jetzt erst einen ganzen Monat bei ihm gewesen sei. Die Antwort des Sohnes lautete, dass der Vater bei Freunden gewesen sei. Weil Berl allen verschwiegen hatte, dass er Jude war, hatte er auch niemandem von seinem Bruder in Israel erzählt. Heute jedoch wohnt auch der Neffe mit seinen drei Kindern, die Asher Ud Opa nennen, in Israel.

50:45 - 51:45

Warum hat er überlebt?

Von einem Fragesteller wird Asher Ud auf sein Gottesverständnis angesprochen. Er meint, dass ihm diese Frage öfters gestellt werde, und er sie stets so beantworte: Er habe nicht um sein Leben gekämpft, er sei nicht weggelaufen oder geflohen. Aber er glaubt, dass Gott wollte, dass er überlebt.

51:45 - 53:34

Sein Verhältnis zu den Deutschen

Den Deutschen und anderen, die damals Juden umgebracht haben, kann er nicht vergeben. Und wenn die Wahrscheinlichkeit nur 20% wäre, dass ein vor ihm stehender Mann Juden umgebracht habe, würde er Rache nehmen. Er will es auch nicht vergessen. Aber die Freude, dass er überlebt hat, und dass es ihm gut geht, ist größer. Asher Ud meint, man muss nach vorne schauen und heute seien Deutsche und Israelis Freunde. Aber das gelte nicht für die, die damals die Verbrechen begangen haben.

Auf die Frage eines Besuchers, wie viel die Deutschen damals von den Verbrechen an den Juden mitbekommen haben, antwortet Asher Ud, dass er das als elfjähriges Kind nicht einschätzen konnte.

53:34 - 54:33

Erinnerungen an Auschwitz

Von den Gaskammern wusste er nichts. Aber eines nachts hatte er einen Schlafplatz, wo er durch ein Loch in der Bretterwand nach draußen sehen konnte. Dort war alles taghell beleuchtet und er sah, wie Menschen Körper trugen und sie in ein Feuer warfen. Als er später einmal Auschwitz besuchte und von seiner Beobachtung erzählte, zeigte man ihm diese Gruben, wo man die Menschen hineingeworfen und verbrannt hatte. Aber von den Gaskammern hatte er nichts mitbekommen.

54:33 - 57:13

Dank und Verabschiedung von Asher Ud

Asher Ud dankt den Besuchern, dass sie ihm zugehört haben. Er hofft, dass das, was sie durchgemacht haben, eine Art Opfer für sie alle und die nächste Generation ist, dass es in der Zukunft nur noch Frieden und Gesundheit gibt. Für ihn selbst ist es immer wieder neu aufwühlend, über seine Erlebnisse zu berichten.