Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Fredy Kahn

Interview am 23. Juni 2021 in Maisenbach, Deutschland

Fredy Kahn ist in Baisingen aufgewachsen, wo sein Vater Harry nach seiner Rückkehr aus den Konzentrationslager nach dem Zweiten Weltkrieg den letzten jüdischen Viehhandel führte. Der Stammbaum der Familie Kahn in Baisingen kann bis ins Jahr 1705 zurückverfolgt werden. Dr. Fredy Kahn ist Arzt und hatte bis zu seinem Ruhestand eine Praxis in Nagold. Im Interview mit Thorsten Trautwein erzählt er von seiner Familiengeschichte.

Kurzbiografie

Inhaltsübersicht

00:00 - 01:30

Begrüßung durch Schuldekan Thorsten Trautwein

Nach der Begrüßung stellt Schuldekan Thorsten Trautwein kurz das Buch und das Projekt „Jüdisches Leben im Nordschwarzwald“ vor. Das Ziel der Veranstaltung ist das jüdische Leben im Nordschwarzwald anhand der Lebensgeschichte der Familie Kahn kennenzulernen. Das Interview wird sich an vorhandenen Fotos orientieren.

01:30 - 07:54

Die Anfänge der Baisinger Juden

Das erste Bild zeigt den Familienstammbaum der Familie Kahn, der bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Nach dem 30jährigen Krieg (1618 bis 1648) waren zahlreiche Landstriche im deutschen Südwesten verödet. So kam es, dass verschiedene Landesherren Juden Schutzbriefe ausstellten und sie in ihren Herrschaftsgebieten ansiedelten.

Zwischen Herrenberg und Tübingen liegt die Enklave Baisingen, wo sich die Vorfahren von Fredy Kahn schon in den 1670er/1680er Jahren ansiedelten. Es ist etwas Besonderes, dass seine Vorfahren alle in demselben Dorf wohnten, denn die Normalität war, dass sich die Juden immer wieder einen neuen Wohnsitz suchen mussten.

Die ersten Juden wurden 1561 in Baisingen angesiedelt, damals noch in besonderen Schutzhäusern. Ein Problem war die Bestattung der Verstorbenen, die nach jüdischer Tradition eigentlich noch am selben Tag beerdigt werden mussten. Das war sehr beschwerlich, denn der nächstgelegene Friedhof befand sich in Mühringen, also mehrere Stunden Fußmarsch von Baisingen entfernt. 1778 bekamen die Baisinger Juden die Erlaubnis einen eigenen Friedhof anzulegen. Dieser lag - wie die meisten jüdischen Friedhöfe - außerhalb des Orts. Wichtig war, dass es dort Wasser gab, um die rituellen Waschungen vornehmen zu können.

1784 bekamen die Baisinger Juden die Erlaubnis, eine eigene Synagoge zu errichten. 1806 kam Baisingen dann zum Königreich Württemberg. Der württembergische König trieb nach und nach die Emanzipation der Juden voran, so dass sie rechtlich immer mehr den christlichen Einwohnern gleichgestellt wurden, bis zu einem ersten Höhepunkt 1848.

Doch diese Entwicklung hin zur Gleichstellung gefiel nicht jedem, mancher sah die Juden als Konkurrenz und fühlte sich bedroht. Am Ostersonntag 1848 kam es zu einem Judenpogrom, bei dem zahlreiche jüdische Wohnungen zerstört wurden.

Danach setzte wieder eine positive Entwicklung ein. Um 1880 existierte eine friedliche Koexistenz.

10 Generationen der Familie Kahn haben in Baisingen gelebt. Auch wenn die Kinder und Enkelkinder von Fredy Kahn heute über Deutschland verstreut leben, versuchen sie doch, die Tradition aufrecht zu erhalten.

07:54 - 10:17

Bekannte Vorfahren aus der Familie Kahn

Die Baisinger Juden waren sehr religiös, auch die soziale Kontrolle war stark. Es gab eine jüdische Schule im Ort und die Kinder lernten von Klein auf, was wichtig ist. Aus diesem religiösen Umfeld entstammten zwei bekannte Rabbiner seiner Familie: Dr. Moritz Kahn in Bad Mergentheim und Dr. Ludwig Kahn in Heilbronn. Auf diese beiden Rabbiner, die in Tübingen studiert und promoviert hatten, war die Familie auch ein wenig stolz. Im Sinne der Gleichberechtigung war die Ausbildung an der staatlichen Universität vorgeschrieben.

Ein anderer Vorfahre, Hirsch Benedikt Kahn, war 50 Jahre jüdischer Kirchenpfleger. Für dieses außergewöhnlich lange Wirken bekam er vom württembergischen König eine Verdienstmedaille verliehen.

10:17 - 13:35

Religiöses Leben in Baisingen

Das nächste Bild zeigt einen Gottesdienst in der Baisinger Synagoge in den 1930er Jahren. Die Männer sitzen von den Frauen getrennt. Die Aufnahme wurde während des Laubhüttenfestes gemacht, was an den verzierten Stöcken zu sehen ist. Auch eine Sukka wurde während des Laubhüttenfestes in Baisingen aufgebaut, wo dann eine Woche lang - zumindest abends - gegessen wurde. Auch Fredy Kahn hat noch in Nagold in seinem Garten eine Sukka aufgebaut.

Auf dem Bild ist auch Fredy Kahns Großvater, der sogenannte Judenjakob, zu sehen, der noch im hohen Altern von 93 Jahren ins KZ abtransportiert wurde. Daneben sitzt sein anderer Großvater, Friedrich Kahn, der - wie Fredy Kahn sagt - das Glück hatte, dass er 1940 noch zuhause sterben durfte. Seine Großmutter ist auf dem Bild nicht zu sehen. Vermutlich saß sie oben bei den Frauen. Sie wurde abtransportiert und verstarb im KZ.

Wenn man von abweichenden Kleinigkeiten absieht, könnte das Bild ebenso gut in einer Kirche aufgenommen worden sein. Die Juden unterschieden sich äußerlich nicht von ihren christlichen Nachbarn und sprachen genauso Schwäbisch wie diese. Auf einen kleinen Unterschied weist Fredy Kahn noch hin: in der Kirche nahmen die Männer ihre Hüte ab, während Juden bei Gottesdiensten, Beerdigungen u.a. heute noch eine Kopfbedeckung tragen. Der Grund ist, dass laut dem jüdischen Gesetz etwas zwischen dem Menschen und Gott stehen muss.

13:35 - 16:40

Jüdische Soldaten im Kaiserreich

Bei der Gründung des Kaiserreichs 1871 wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, die auch für Juden galt. 23 Baisinger Juden kämpften im Ersten Weltkrieg für das Deutsche Kaiserreich, vier davon fielen für ihr Vaterland. Auf dem Denkmal vor der katholischen Kirche in Baisingen sind auch ihre Namen aufgeführt. Einer von ihnen war Max Weinberger. Von ihm wird berichtet, dass er kurz bevor er 1915 fiel, in seiner Kompanie noch als Vorbeter gewirkt hat.

Im Besitz der Familie Kahn befindet sich heute noch ein Reservistenkrug. Solch einen Krug bekam damals jeder nach dem Ende der Wehrdienstzeit als Abschiedsgeschenk. Eingraviert war immer die Garnison, wo derjenige gedient hat, manchmal wurden auch die Namen aller Kameraden aufgelistet. Dieser Krug ist das einzige Besitzstück, das Harry Kahn 1945 bei seiner Rückkehr zurückgegeben wurde.

Ganz viele der Soldaten, die im Ersten Weltkrieg gedient hatten, hielten es nicht für möglich, dass auch sie ein Opfer der Nationalsozialisten werden könnten. Sie fühlten sich sicher, weil sie für Deutschland gekämpft hatten, vielen war sogar das Eiserne Kreuz verliehen worden.

16:40 - 21:54

Das Leben im Judendorf Baisingen

Die Kahns sind schon seit vielen Generationen Viehhändler. Viele andere Möglichkeiten als den Handel gab es auch nicht. Je nach Gegend betrieben die Juden dann Wein-, Leder-, Getreidehandel u.ä.. Ein Handwerk auszuüben war ihnen lange Zeit verboten gewesen.

Die Viehhandlung gehörte seinem Großvater Friedrich Kahn, der sie zusammen mit seinem Schwager betrieb. Als dann Fredy Kahns Vater Harry (geb. 1911) mit in den Betrieb einstieg, trennte sich Friedrich Kahn von seinem Schwager. Den Viehhandel betrieben sie, bis es nicht mehr möglich war, weil den Juden der Handelsschein aberkannt wurde. In den letzten ein bis zwei Jahren vor der Deportation war es den Kahns nicht mehr möglich, mit dem Viehhandel Geld zu verdienen. Harry Kahn ging dann zur Firma Mayer zum Straßenbau. Wenn Fredy Kahn später seinem Vater beim Verladen des Viehs am Eutinger Bahnhof half, betonte dieser immer wieder, dass er die Laderampe gebaut habe.

Fredy Kahn beschreibt die Geschichte seiner Familie als ein beständiges Auf und Ab.

In Baisingen gab es neben der Synagoge und dem Friedhof noch ein Tauchbad (Mikwa) und eine jüdische Schule. Das Foto zeigt eine relativ große Gruppe von Schülerinnen und Schülern. Fredy Kahn ist selbst immer wieder überrascht, wie viele jüdische Kinder es in dem kleinen Dorf gab. Das nächste Bild zeigt eine Gruppe verkleideter Kinder am Purimfest. Während man sich heute als Indianer oder Cowboy verkleidet, trägt ein Junge ein Soldaten-Uniform. Dadurch wird deutlich, wie stolz auch die Juden auf ihr Land waren und bereit, dafür in den Kampf zu ziehen. Fredy Kahn betont noch einmal, dass die Juden in Baisingen und anderswo genau so waren wie alle anderen auch, und eben nicht anders.

21:54 - 29:45

Verbrechen und die Verdrängung der Schuld

1938 heiratete Harry Kahn Irene Weinberger aus Haigerloch. Fredy Kahn erklärt, dass es in der Region mit Baisingen, Haigerloch, Rexingen, Nordstetten u.a. mehrere Enklaven gab, die sogenannten Judendörfer, die einen jüdischen Bevölkerungsanteil von bis zu 30% hatten. Die jungen Menschen aus den verschiedenen Judendörfern standen in Kontakt und trafen sich. So lernte Harry Kahn seine erste Frau kennen. 1941 wurden sie zusammen abtransportiert. Irene Kahn geb. Weinberger hat das KZ nicht überlebt. Harry Kahn war in neun verschiedenen KZs inhaftiert. Vermutlich hat er überlebt, weil er mit seinen 30 Jahren noch relativ jung war. Er war kräftig, gesund und das Arbeiten gewöhnt. Das war damals bei den Selektionen von Vorteil. Am Schluss war Harry Kahn zusammen mit einigen anderen schwäbischen Juden in Theresienstadt. Dort traf er auf eine Jüdin aus Stuttgart, die er nach dem Krieg heiratete. Sie ist Fredy Kahns Mutter.

Im Juli 1945 bekam Harry Kahn über das Rote Kreuz ein Telegramm von seinem Bruder Siggi. Von allen anderen Verwandten wusste er zu der Zeit nicht, ob sie noch am Leben waren. Siegfried war der zehn Jahre jüngere Bruder, den die Eltern noch vor dem Krieg nach England geschickt hatten. Dafür hatten sie alle ihre Ersparnisse zusammenkratzen müssen. Der Vater der beiden, Friedrich Kahn, der 1940 noch eines natürlichen Todes sterben durfte, hatte Siggi ein Gebetsbuch mit auf den Weg gegeben, das dieser immer bei sich hatte und das bis heute in Ehren gehalten wird. Siegfried kam regelmäßig alle zwei Jahre nach Deutschland, um seinen Bruder zu besuchen.

Als Siggi 1945 nach sechs Jahren als englischer Soldat das erste Mal nach Baisingen zurückkehrte, kam ihm im Dorf eine Bauersfrau entgegen, die ihn völlig verständnislos fragte, warum er denn eine Uniform trage. Fredy Kahn berichtet, dass sie nicht die Einzige war, die die Zusammenhänge nicht begriff, und dass es lange gedauert hat, bis sich die Leute überhaupt Gedanken machten und es zu einer Aufarbeitung kam.

29:45 - 30:50

Heimat

Der Bruder Siegfried war Engländer. Obwohl auch er ein wenig Heimatgefühl in Baisingen empfand, konnte er es nicht verstehen, warum sein Bruder Harry nach dem Krieg in ihr Heimatdorf zurückgekehrt war und dort lebte. Und er war nicht der Einzige, der dafür kein Verständnis hatte. Auch von anderen Emigranten, die nach Israel, die USA oder anderswo hin ausgewandert waren, und von denen immer wieder mal welche nach Baisingen kamen, um die Gräber der Vorfahren zu besuchen, wurde Harry Kahn oft gefragt, wie er denn hier leben könne. Auch Fredy Kahn hat sich im Laufe der Zeit Gedanken darüber gemacht, warum sein Vater so gehandelt hat, wie er es tat.

30:50 - 31:50

Die zweite Frau

Nach seiner Rückkehr nach Baisingen, erfuhr Harry Kahn, dass seine erste Frau im Konzentrationslager umgekommen war. Er selbst schloss sich der jüdischen Gemeinde in Stuttgart an, weil es in und um Baisingen ja keine weiteren Juden, und auch keine Gemeinde mehr gab. In Stuttgart traf er dann auch wieder auf die Frau, die er bereits in Theresienstadt kennengelernt hatte. Die Familie der blonden, jungen Frau stammte ursprünglich aus Cherson in der Ukraine. Die beiden lernten sich lieben und heirateten 1946, erzählt Fred Kahn. 1947 wurde dann er geboren.

31:50 - 34:58

Das Andenken bewahren

In Baisingen gibt es eine kleine Gedenkstätte in der ehemaligen Synagoge. Auf dem jüdischen Friedhof ließ Harry Kahn einen Gedenkstein zur Erinnerung an die deportierten Juden errichten, damit sie nicht vergessen werden. Zur Einweihungsfeier kam ein Rabbiner aus Stuttgart. Später, als die Schicksale der Deportierten bekannt waren, wurden auch die Namen in den Gedenkstein eingraviert.

Heute hat Fredy Kahn den Schlüssel zum Friedhof. Er meint, er habe quasi seinen eigenen Friedhof. Wenn er den Friedhof betritt, spricht er nach dem Aufschließen zunächst ein Gebet. Dann schaut er, ob die Grabsteine noch alle stehen. Auf jüdischen Friedhöfen ruhen die Gebeine unbegrenzt bis zu dem Tag, an dem der Messias kommt. Meist sind die jüdischen Friedhöfe außerhalb, oft am oder im Wald. Die Stimmung dort beschreibt Fredy Kahn als ganz besonders. Die Friedhöfe und die Gräber werden auch nicht hergerichtet, man schaut nur, dass die Grabsteine nicht umfallen. Fredy Kahn beschreibt diese Verantwortung und Verpflichtung, die er als Letzter hat, als ein schönes Gefühl. Schuldekan Thorsten Trautwein ergänzt, dass es auch wichtig sei, das Andenken an die Menschen mit ihrem Namen zu bewahren.

34:58 - 40:56

Heimkehr

Als Harry Kahn wieder in sein Heimatdorf zurückkam, wohnten andere Menschen in seinem Haus. Alle Immobilien und Wertgegenstände von Juden waren von der Finanzbehörde an Deutsche verkauft worden. Doch es gelang dem Vater, das Haus wieder zurückzubekommen. Insgesamt waren es aber nur wenige Gegenstände wie zum Beispiel der Reservistenkrug, den er wiederbekam.

Als er zum Friedhof kam, stellte der Vater fest, dass der Zaun darum fehlte. Den hatte der Nazi-Bürgermeister, wie ihn Fredy Kahn nennt, abgebaut und um seinen Obstgarten herum angelegt. Nach all dem Erlebten, war mit Harry Kahn nicht mehr gut Kirschen essen, wenn es um solche Dinge ging. Er drohte dem Bürgermeister, dass wenn der Zaun nicht am nächsten Tag wieder an seinem Platz wäre, dann würde was passieren.

Fredy Kahn sagt über seinen Vater, dass dieser als anderer Mensch aus dem KZ zurückgekehrt sei. Er legte sich eine harte Schale zu und ließ sich nichts mehr gefallen. Wenn irgendwo antisemitische Tendenzen zu erkennen waren, hielt er sich nicht zurück. Er wartete nicht, bis vielleicht andere was sagten, sondern griff gleich ein.

Die Versteigerungen der jüdischen Wertgegenstände war ein Thema, über das lange Zeit geschwiegen wurde. Als Fredy Kahn als Arzt bei einem Hausbesuch eines Tages in eine einfachen Bauernstube kam und dort eine wertvolle Uhr hängen sah, sprach er die Bauersleute darauf an. Der Bauer gab ihm recht lapidar und scheinbar ohne Schuldgefühl zur Antwort, dass er die damals bei der Versteigerung des Eigentums der Baisinger Juden gekauft habe. Per Annonce waren diese Versteigerungen angekündigt und direkt am Haus durchgeführt worden.

Die deutschen Beamten hielten dabei bis ins kleinste Detail fest, welcher Gegenstand von welchem Besitzer zu welchem Preis an welchen Erwerber ging. Fredy Kahn hat sich später solche Listen angesehen. Doch als die Überlebenden aus den KZs befreit wurden und eine Wiedergutmachung für die enteigneten Wertsachen wollten, antworteten die Behörden pauschal, es gäbe keine Unterlagen mehr, was schlicht gelogen war. Erst viel später beschäftigten sich Historiker mit diesen Dokumenten.

Für Harry Kahn war das ein großes Problem. Für seine tote Mutter hatte ihm der deutsche Staat 900 Mark für die Zeit angeboten, die sie im KZ verbracht hat, bevor sie verstarb. Fredy Kahn ermahnt dazu, dass wenn man heute Unrecht - auch im staatlichen Handeln - wahrnimmt, etwas sagen und nicht schweigen sollte.

40:56 - 46:20

Viehhandel

Eines der Bilder zeigt Harry Kahn auf dem Viehmarkt in Nagold. Morgens um sieben musste das Vieh auf dem Markt aufgestellt werden. Fredy Kahn war da als kleiner Junge immer mit dabei. Bei den größeren Märkten wie in Herrenberg und Nagold kam auch seine Mutter mit. Sie saß dann im VW-Käfer und kurbelte das Fenster herunter - das war dann das Büro. Fredy Kahn bekam von seinem Vater einen Zettel mit der Nummer des Viehs und dem Preis in die Hand gedrückt, mit dem er dann zur Mutter lief, um ihn dort abzugeben, damit sie das Finanzielle regelte. Harry Kahn hatte lange gedacht, dass aus seinem Sohn auch ein Viehhändler werden würden. Die Entscheidung zu akzeptieren, dass sein Sohn nach all den langen Generationen nicht in seine Fußstapfen tritt und Arzt statt Viehhändler wird, war für ihn nicht leicht gewesen. Zunächst hat Fredy Kahn wenigstens noch Veterinärmedizin studiert, wurde dann aber doch Allgemeinarzt. Aber später, so meint er, sei sein Vater doch froh gewesen, dass sein Sohn Arzt war, weil auch er merkte, dass die Landwirtschaft zurückging.

Untereinander haben sich die zahlreichen jüdischen Viehhändler meist in Hebräisch verständigt, auch wenn ihre sonstige Alltagssprache Deutsch war. Als die Juden weg waren und ihre früheren (deutschen) Stallhelfer den Viehhandel übernahmen, übernahmen sie auch viele der hebräischen Ausdrücke. In Bayern gab es eine Viehhandelsschule, wo noch in den 1950er und 1960er ein Kursbuch mit jüdischen Zahlen und Ausdrücken verwendet wurde.

Anschließend erklärt Fredy Kahn wie sich das Mittelhochdeutsche aus dem Mittelalter, das früher überall gesprochen wurde, unter den Juden, die nach Osteuropa zogen, als Jiddisch erhielt. Doch die Juden hier in der Region machten den sprachlichen Wandel ebenso mit wie die restliche Bevölkerung, weshalb sie auch kein Jiddisch sondern Schwäbisch sprachen.

46:20 - 53:13

Der Judenjakob und das Miteinander im Dorf

Jakob Lasar, bekannt als der Judenjakob, wohnte bei seiner Tochter, also der Großmutter von Fredy Kahn. Er wollte sich nützlich machen und versuchte den Schwiegersohn beim Viehhandel zu unterstützen. Darum ging er in die Nachbardörfer und hörte sich dort um, um zu erfahren, wer gerade ein Stück Vieh suchte, oder wer vielleicht gerade eine Schlachtkuh zu verkaufen hatte. Fredy Kahn wurde später von einem alten Mann, der seinen Urgroßvater noch kannte, erzählt, dass dieser immer Bonbons dabei hatte. Wenn er im Dorf auftauchte, kamen immer gleich Kinder angelaufen. An die verteilte er dann die Bonbons und fragte sie nebenher ein wenig aus, ob der Vater nicht vielleicht im Stall ein Stück Vieh habe, das er verkaufen wolle. Falls sich etwas ergab, ließ er sich gleich von den Kindern zum Stall führen. Dieser Judenjakob starb später mit 93 Jahren im KZ Theresienstadt.

Als Fredy Kahn einmal im Herbst einen Hausbesuch bei einem alten Bauern machte, stand auf dem Tisch eine Tüte mit Walnüssen. Nach der Untersuchung sagte der Bauer zu ihm: „Heute habe ich ihnen eine Tüte mit ganz besonderen Walnüssen hingerichtet.“ Fredy Kahn fragte sich, was an diesen Walnüssen so besonders sein sollte - sie sahen aus wie alle anderen auch. Der Bauer deutete zum Fenster hinaus und zeigte auf den dort draußen stehenden Walnussbaum. Dabei erklärte er, dass er dem Judenjakob über viele Jahre jedes Jahr im Herbst eine gleich große Tüte mit Walnüssen von diesem Baum geschenkt habe. Diese Tradition wolle er so lange aufrechterhalten, wie er lebe und Fredy Kahn sein Hausarzt sei.

Auf der einen Seite freute Fredy Kahn sich, aber auf der anderen gab es ihm auch sehr zu denken. Mit Blick auf das Bild fügt er noch hinzu, dass der Judenjakob doch aussehe wie ein ganz normaler alter schwäbischer Mann. Thorsten Trautwein ergänzt, dass doch gleichzeitig in diesem Bild auch die ganze Dramatik seines Lebens liege. Am Ende schildert Fredy Kahn noch, wie ihn sein guter- ein christlicher - Freund zu Fuß ganz bis nach Ergenzingen zum Bahnhof begleitete, wo sich die Juden einfinden mussten. Dieser Nachbar hatte ihn mit seinem Koffer gesehen und angesprochen. Er fragte ihn, ob er verreisen wolle. Der Judenjakob verneinte und antwortete: „Noi, i muss verreise.“ Für Fredy Kahn machen diese und andere Begebenheiten deutlich, wie Christen und Juden über lange Zeit ganz friedlich nebeneinander gelebt und voneinander profitiert haben. Viele christlichen Dorfbewohner fanden Arbeit bei Juden und konnten so Geld durch Mithilfe im Haushalt oder im Stall verdienen.

Das Miteinander ging oft bis weit ins private Leben hinein. Da die Juden am Sabbat keine Arbeit verrichten durften, kochten die jüdischen Frauen am Freitagabend Eintopf und ließen ihn bis zum Samstagmittag auf dem Ofen stehen. Da konnte es oftmals passieren, dass man die christliche Nachbarin darum bat, am Samstagmorgen noch ein Holzscheit nachzulegen. Als das Dorfleben vor dem Nationalsozialismus noch in Ordnung war, sei es einfach ganz normal gewesen, sich gegenseitig zu helfen, so Fredy Kahn.