Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Ruth Krammer

Interview am 21. Juli 2013 in Regba, Israel

Ruth Krammer wurde in Hildesheim als Kind einer wohlhabenden Familie geboren. Ihre Kindheit war zum einen von der Geborgenheit im Haus der Großeltern geprägt, zum anderen aber seit 1933 auch von einem ständigen Gefühl der Angst. Tief eingeprägt haben sich ihr die Erlebnisse rund um die Reichspogromnacht 1938. 1939 gelang es der Familie, mithilfe einer Tante in die USA zu fliehen. Mit Deutschland brach sie ganz, die USA - insbesondere Chicago - wurden ihr zur neuen Heimat. Über ihren Mann Bob bestanden Kontakte nach Israel, wohin sie später übersiedelten. Und auch nach Deutschland reiste sie in hohem Alter noch einmal. Sie starb am 7. März 2020.

Kurzbiografie

1928 wurde Ruth Krammer (geb. Loeser) als zweites Kind der Kaufmannsfamilie Loeser geboren. Vor allem bei den ebenfalls sehr wohlhabenden Großeltern mütterlicherseits erfuhr sie viel Liebe und Geborgenheit. Doch die Machtergreifung der Nationalsozialisten wirkte sich immer mehr auf das alltägliche Leben aus, und die Angst wurde zu einem ständigen Begleiter. Kleinere und größere Übergriffe sowie das plötzliche Verschwinden ihrer besten Freundin Gusti prägten sich tief in der Erinnerung ein. Gerade noch rechtzeitig gelang der Familie die Flucht in die USA, wo sich ihre Familie mit nichts ein neues Leben aufbaute. Ruth selbst war eine gute Schülerin und konnte Dank eines Stipendiums an der Academy of Arts in Chicago studieren. Ihr aus Ungarn stammender Mann Bob, arbeitete sich zu einem erfolgreichen Unternehmer und Diplomat im Auftrag der UN hoch. Zusammen haben sie vier Kinder. Als Ruth Krammer bereits mit 49 Jahren Witwe wurde, baute sie sich eine eigene Existenz als Reiseleiterin auf und knüpfte an Kontakte ihres Mannes in Israel an, wohin sie später selbst übersiedelte. Ruth Krammer ist am 7. März 2020 verstorben, im Beisein von Zedakah-Mitarbeiterin Dorothea Bayer.

Inhaltsübersicht

00:08 - 06:16

Frühe Kindheitserinnerungen an die Familie

Ruth Krammer - Loeser zeigt zunächst ein Foto von ihrem Geburtshaus und dem Haus ihrer Großeltern Loeser, wo sie als Kind oft war, bevor sie sich vorstellt. Sie wurde 1928 in Hildesheim geboren und hatte eine liebevolle Kindheit. An die Zeit vor 1933 kann sie sich kaum erinnern. Ihre Eltern haben beide in dem Geschäft des Großvaters Hermann Loeser in Hildesheim gearbeitet, von dem sie auch ein Foto zeigt. Der andere Großvater, Albert Goldschmidt, der zu einer großen, sehr reichen Familie gehörte, hatte sein Geschäft ebenfalls in Hildesheim. Die Großeltern Goldschmidt spielten in Ruth Krammers Leben eine wichtige Rolle, als sie klein war - vor allem die »Omi« war wie eine Mutter für sie. Ruth Krammer hat sie sehr geliebt und bewundert. Sie meint, diese Frau war zu gut für diese Welt, während sie von ihr ein Foto zeigt. Auch zu Albert Goldschmidt, von dem es ebenfalls ein Foto gibt, hatte sie eine besondere Beziehung. So durfte sie ihm auch als einzige über die Glatze streicheln.

06:16 - 09:32

Kindheitserinnerungen an Hildesheim

Bis zur weitgehenden Zerstörung im Zweiten Weltkrieg war Hildesheim, wie Ruth Krammer schildert, eine sehr schöne und recht beschauliche Stadt mit vielen alten Bauwerken aus dem Mittelalter. Sowohl Ruth Krammer selbst als auch ihre beiden Eltern wurden in Hildesheim geboren.

Als Kind musste Ruth Krammer jede Woche zur Synagoge gehen. Gegenüber der Synagoge war die jüdische Schule. In diesem Stadtteil gab es viele alte Häuser, die schon ganz schief waren. Als sie 1995 wieder nach Hildesheim kam, wunderte sie sich, dass diese Häuser immer noch an ihrem Platz standen, denn schon als Kind hatte sie geglaubt, dass sie jeden Moment einstürzen würden.

Eigentlich wollte sie nie wieder in ihre Heimatstadt zurückkehren. Auch ihren Kosenamen aus der Kindheit »Mockele« wollte sie nicht mehr hören, und doch taucht auch er wieder in der Erinnerung auf.

09:32 - 11:21

Synagogenbesuch

In die Synagoge ging Ruth Krammer recht gerne. Vor dem Synagogenbesuch gab es immer ein schönes Abendessen und alle zogen ihre besten Kleider an. Das Judentum damals in Deutschland ist mit dem heutigen orthodoxen nicht vergleichbar – sie waren liberal, sagt Ruth Krammer. Die Frauen saßen oben, während die Männer unten ihren Platz hatten. Und weil Ruth Krammers Großvater ein wichtiger Mann in der Gemeinde war, hatten die Frauen der Familie oben einen Platz in der ersten Reihe. Aber Ruth und ihrer Schwester Eva fiel das Stillsitzen schwer. Die Mutter nahm immer wieder ihre Hand, während die Großmutter den Finger vor den Mund legte. Und wenn der Großvater dann mahnend nach oben blickte, wusste sie, dass sie jetzt ruhig sein musste. Aber meist gelang ihr das nur wenige Minuten.

11:21 - 14:14

Die Großeltern

Ruth Krammers wirkliches Heim war das Haus der Großeltern Goldschmidt. Sie hat immer gedacht, dass das das schönste Haus und der schönste Garten auf der ganzen Welt sei. Auch die Großeltern waren sehr gut zu ihr. Die Großmutter hat immer gelächelt, auch wenn sie mit Ruth eigentlich hätte hin und wieder schimpfen müssen – aber sie war nie wütend, sondern stets zu allen freundlich. Ruth Krammer hat die Großmutter mit den blauen Augen sehr geliebt. Der Großvater dagegen war recht streng, aber auch ein guter Mann. Viele Jahre konnte er nicht arbeiten, weil er krank war. Aber es ging ihnen gut, und der Großvater verteilte immer viel Geld an andere Menschen – auch weil er nicht wollte, dass man dachte, dass sie reich wären.

Der Großvater väterlicherseits war schon lange vor ihrer Geburt gestorben. Die Großmutter Ella Loeser lebte – seit Ruth Krammer sich erinnern kann – in einem Altenheim und starb relativ früh mit 72 Jahren. Warum weiß sie nicht, aber Ruth Krammer erinnert sich, wie sie immer wieder auf dem Schoß der Großmutter saß, und diese ihr Grimms und Andersens Märchen vorgelesen hat. Außerdem bekamen die Kinder dort immer Dinge, die zuhause verboten waren.

14:14 - 18:12

1933 Einschnitt ins Leben

An die Zeit vor der Machtergreifung kann sich Ruth Krammer kaum erinnern. Sie war da erst fünf Jahre alt und ihre Schwester elf oder zwölf. Aber sie weiß noch, wie sie und ihre Schwester mit Mumps im Bett lagen, als es eines Tages kräftig an der Tür geklopft hat und sie anschließend ein Schreien und die Stimmen der Eltern hörten. Die SS-Leute in ihren schwarzen Uniformen drangen in die Wohnung ein. Sie schlugen mit Knüppeln auf den Vater ein und peitschten ihn aus. Ruth weiß noch wie sie schrie und wie ihre Schwester stumm vor Schreck war.

Warum das geschah, wussten sie und ihre Schwester nicht - es hatte doch niemand etwas getan, dachten sie. Heute weiß sie, dass der Vater politisch interessiert und gegen die Nationalsozialisten eingestellt war – und er war Jude. Aber er war ein echt deutscher Jude, wie Ruth Krammer es nennt, der als Oberoffizier im Ersten Weltkrieg für das Deutsche Reich gekämpft hatte.

Diesen Horror konnte sie einfach nicht verstehen, und auch nicht vergessen. Ab diesem Augenblick hat sich das komplette Leben der Familie verändert. Dieses Schockerlebnis verfolgte Ruth Krammer ihr Leben lang in Alpträumen. Von da an hatte sie auch immer Angst, besonders als sie einen jener Männer mal auf der Straße gesehen hat.

18:12 - 22:42

Angst und Hass auf Deutschland

Lange Zeit hat sie über diese Erlebnisse geschwiegen. Auch Deutsch hat sie viele Jahre lang – bis sie 1980 nach Israel kam – nicht mehr gesprochen. Sie hasste Deutschland und wollte weg. Aber sie wussten nicht wie. Die Angst war ein ständiger Begleiter. Mit ihren gut fünf Jahren musste sie jeden Morgen mit dem Schulranzen auf dem Rücken zur Schule laufen. Auf dem Schulgebäude wehte die deutsche Flagge, ein Anblick, den sie bis heute nicht mehr sehen kann.

Ruth Krammer hat die Erlebnisse aufgeschrieben, weil sie dachte, dass es vielleicht einmal für die Kinder und Enkelkinder gut wäre. Aber ob sie überhaupt überleben würden, das wussten sie nicht. Jeden Tag erfuhren sie von Menschen, die aus ihren Häusern geholt wurden, und von denen man nie mehr gehört hat. Welche Gewalt und Grausamkeit, und welcher Hass auf die Juden in dieser schönen Stadt herrschte, das wusste sie vorher nicht. Sie konnte das nie verstehen, es wollte einfach nicht in ihren Kopf, denn sie sahen doch aus wie jeder – die ganze Familie hatte blonde Haare. Sie konnte es einfach nicht verstehen und es tat ihr sehr weh.

Die braunen SA-Truppen zogen jeden Morgen am Haus der Großeltern vorbei, bei denen sie zu der Zeit wohnte, und sangen »Wenn´s Judenblut vom Messer spritzt«. Mit Sarkasmus in der Stimme meint Ruth Krammer: »Das war keine gute Art morgens aufzuwachen.«, und trotzdem musste sie ja zur Schule gehen.

22:42 - 25:26

Unterschiede zwischen deutschen und polnischen Juden

Die jüdische Gemeinde in Hildesheim war verhältnismäßig groß. Neben den deutschen Juden lebten auch viele polnische Juden in der Stadt. Aber die deutschen Juden waren sehr stolz: zuerst waren sie deutsch und dann waren sie jüdisch. Als Kind hat sie in ihrer Familie immer wieder abfällige Bemerkungen über die polnischen Juden gehört. Ihr beste Freundin war die gleichaltrige Gusti. Seit die beiden fünf Jahre alt waren, verbrachten sie viel Zeit zusammen. Ruths Mutter wollte aber nicht, dass sie etwas mit ihr zu tun hat, weil Gustis Familie zu den polnischen Juden gehörte. Doch Ruth Krammer beschreibt sich selbst als Kind, das nicht immer folgsam war, und so hat sie auch da viel Lärm gemacht und sich aufgelehnt. Der Großvater hat das mitbekommen und gesagt, dass Ruths Freundin immer in seinem Haus willkommen sei. Gusti und sie waren unzertrennliche Freundinnen – wie Zwillinge - die miteinander groß geworden sind. In der Schule saßen die beiden dann ebenfalls nebeneinander.

25:26 - 28:02

Unnahbarkeit der Mutter

An das Haus in der Schillerstraße hat Ruth Krammer wenige Erinnerungen, aber sie kann sich noch gut daran erinnern, dass es immer zu 100% sauber war. Darauf hat ihre Mutter sehr großen Wert gelegt. Auch bei ihren Töchtern achtete sie immer peinlich genau auf Reinlichkeit. Was Ruth Krammer sehr vermisst hat, war, dass ihre Mutter sie nie einfach mal nur in den Arm genommen hat. Zuerst musste jemand den Kindern den Hals richtig sauber schrubben. Ihre Schwester und sie hatten viele schöne Kleider – und zwar häufig die gleichen, so dass Ruth Krammer immer nach fünf bis sechs Jahren wieder das gleiche Kleid bekam. Jeden Morgen mussten sie vor der Mutter erscheinen, die dann kontrolliert hat, ob die Nägel ohne Schmutz und gepflegt sind, und ob der Hals auch wirklich sauber gewaschen ist. War alles in Ordnung, dann durften die beiden Mädchen ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange geben. Ruth Krammer geht das heute noch nach, weil sie selbst Kinder sehr liebt, und findet, dass man gar nicht anders kann, als ihnen das auch zu zeigen.

28:02 - 29:28

Enteignung und Ausgrenzung

Um 1935 haben die Nationalsozialisten ihnen alles genommen – das große Haus und auch das ganze Vermögen. Sie mussten alle zusammen in einen kleinen Teil des Gebäudes Immengarten 10 umziehen. Sie hatten einen Balkon, und gleich nebenan war noch ein Balkon, der einer deutschen Familie gehörte. Diese Familie hatte ein Mädchen in ihrem Alter, mit dem sie oft auf dem Balkon gespielt hat. Bis sie von einem Tag auf den anderen nicht mehr mit ihr spielen wollte. Als sie den Vater in der Uniform sah, wusste Ruth Krammer, warum ihre Freundin nichts mehr von ihr wissen wollte. Bald darauf war sie auch im BDM (Anm.: Bund Deutscher Mädel).

29:28 - 31:21

Umzug nach Essen

Sie wohnten alle zusammen mit den Großeltern in einer Wohnung, der Vater versuchte Arbeit zu finden. Sie hatten nichts mehr, wovon sie leben konnten, denn die Nationalsozialisten hatten ihnen alles genommen. Der Vater bekam dann eine Arbeit als Vertreter in Essen. Ruth Krammer blieb zunächst bei den Großeltern in Hildesheim. Zwei Jahre später kam sie dann aber auch nach Essen, wo es ihr überhaupt nicht gefiel. Im Rückblick bezeichnet sie es als das »Detroit von Deutschland«. Die Luft dort war so schmutzig, dass sich immer wieder schwarze Partikel auf der Haut absetzten.

31:21 - 36:33

Erinnerungen aus der Schulzeit

In Essen besuchte sie die jüdische Schule. Da es in Essen eine große jüdische Gemeinde gab, war auch die jüdische Schule sehr groß. Dort gehörte Hebräisch zum Unterrichtskanon. Ruth Krammer meint, dass sich da einmal mehr gezeigt hat, was für ein ungezogenes Kind sie sein konnte. Sie hatte überhaupt keine Lust Hebräisch zu lernen und weigerte sich. Sie verstand nicht, warum sie das lernen sollte, und wollte einfach nicht. Auch der Hebräisch-Lehrer war schrecklich. Einmal hatte sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht, da hat der Lehrer sie so lange und so stark geohrfeigt, bis sie blutete. Zuhause traute sie sich nicht von dem Vorfall zu erzählen, aber der Vater hat gleich gemerkt, dass die Wunde nicht von einem Sturz kam. Sie hat dann doch erzählt, was sich ereignet hat, woraufhin der Vater zur Schulleitung ging und der Lehrer entlassen wurde.

Auch in Hildesheim hatte sie einen sehr unangenehmen Lehrer gehabt, der mit ihrem Großvater Goldschmidt befreundet war. Bei ihnen zuhause war der Lehrer Stern immer sehr nett, und auch freundlich zu der kleinen Ruth, aber in der Schule hat er ihr oft mit der Stimmgabel auf die Finger geschlagen. Die ganze Familie Stern kam im Holocaust um.

Ruth Krammer kam in der Schule immer gut mit, weshalb ihre Mutter sie in Essen auf das Gymnasium schicken wollte. Die Aufnahmeprüfung hat sie mit einer eins bestanden und wurde aufgenommen. Auf dem Gymnasium gefiel es ihr gut, obwohl sie dort ihres Wissens nach die einzige Jüdin war. Aber eines Tages hieß es, dass sie wieder von der Schule gehen müsse – nicht weil es Probleme gegeben hätte, sondern weil sie Jüdin war. Ruth Krammer bedauerte das, weil sie dort so viel gelernt hatte. Aber viel schlimmer war, dass ihre Schwester gar nicht mehr zur Schule gehen konnte, weil sie beim Geldverdienen helfen musste. Was sie genau arbeiten musste, weiß Ruth Krammer nicht, aber dass die Schwester sehr darunter gelitten hat, dass sie nicht mehr lernen durfte, und man ihr die Kindheit genommen hat – das verbittert Ruth Krammer heute noch. Sie selbst hat man dann zurück nach Hildesheim geschickt.

36:33 - 39:00

Auswanderungsgedanken

Zurück in Hildesheim besuchte sie wieder die jüdische Schule. Aber die Eltern trugen sich da schon mit dem Gedanken auszuwandern. Die Mutter versuchte mit einer alten Tante, die 1912 einen Amerikaner geheiratet hatte und in New York lebte, Kontakt aufzunehmen. Bei solchen Dingen, wie Menschen aufzuspüren, bewies ihre Mutter immer großes Geschick. So gelang es ihr auch die Tante zu finden, deren Mann damals schon gestorben war. Sie bat sie, ihnen zu helfen. Das Problem war aber, dass die Amerikaner die Einwanderungsgesetze verschärft hatten. Für Menschen, die in die USA einreisen wollten, musste ein in den USA-lebender Verwandter einen Affidavit leisten (Anm.: einen Eid, dass er die Verantwortung für die Einwanderer übernimmt). Aber das konnte die Tante, die nach Ruth Krammers Schätzung damals schon um die 90 Jahre alt war, nicht. Als Witwe hatte sie auch nur ein kleines Einkommen. Die Tante fand aber eine andere Familie aus Ohio, die schon in der 3. Generation in den USA lebte. Diese Familie bemühte sich, Ruth Krammer und ihre Angehörigen aus Deutschland herauszubekommen.

39:00 - 45:05

Der schlimmste Tag

Wenn sie in Hildesheim zur Schule ging, wurde Ruth Krammer auf dem Schulweg mit Steinen beworfen und die anderen Kindern haben »dreckige Jüdin« hinter ihr her gerufen. Einmal hat sie ein Nazi-Hund richtig fest gebissen. Zuhause hat sie das aber niemandem erzählt. Sie wollte einfach nur durch den Tag kommen. Ihr einziger Wunsch war, abends mit der Sicherheit zu Bett gehen, dass auch am nächsten Tag die Welt noch in Ordnung wäre, und sie ganz normal zur Schule gehen könnte. Die Angst war in dieser Zeit ihr ständiger Begleiter. Es gingen viele Gerüchte um, die auch dem Kind Ruth Krammer zu Ohren kamen.

Eines Tages (Anm.: am 10. November 1938) ging sie wie sonst auch zur Schule. Unterwegs haben die Leute ihr schon zugerufen »Deine Synagoge brennt.« und mit Gegenständen geworfen. Die Synagoge befand sich genau gegenüber der Schule. Aber sie konnte und wollte es nicht glauben. Doch als sie um die letzte Ecke bog, hat sie es gesehen – einen Anblick, den sie nie vergessen konnte. Die Hildesheimer Synagoge war nicht groß, aber sehr schön gewesen. Beim Bau war viel Holz – teilweise sogar Mahagoniholz – verwendet worden. Einer der SS-Leute fasste Ruth Krammer an der Schulter und warf sie regelrecht in das Schulgebäude. Noch heute kann sie es nicht leiden, wenn jemand sie an der Schulter berührt. Die Schüler wurden an die Fenster gestellt und gezwungen dabei zuzusehen, was gegenüber vor sich ging. Viele der Kinder weinten, auch solche, die deutlich älter wie die damals 10jährige Ruth Krammer waren. Der Lehrer meinte nur »Es hilft nicht zu weinen.« und fügte nach hebräischer Redensart hinzu: »Es wird schon gut werden.«

Dann kam ein Mann mit einem Brief, der von den SS-Leuten durchgelassen wurde. Er las eine Liste vor, auf der die Namen von ungefähr zwölf Kindern standen, die mit ihm mitkommen sollten. Unter ihnen waren auch Ruth Krammer und ihre Freundin Gusti. Unterwegs konnten sie immer wieder die ausgebrannte Synagoge sehen. Sie wurden nach Hause gebracht, aber was aus den anderen Kindern geworden ist, die nicht mitkommen durften, das weiß sie nicht. Sie hat sie nie wieder gesehen.

45:05 - 47:44

Deportation des Vaters und Großvaters

Als sie zuhause ankamen, weinte die Großmutter. Sie hatte von Ruths Mutter erfahren, dass man den Vater nach Dachau gebracht hatte. Was Dachau war, das wusste sie damals nicht – aber die Großmutter wusste, was das bedeutet. Warum sie den Vater mitgenommen hatten, wusste niemand – es hatte auch niemand etwas gesagt. Die Mutter wusste zunächst nicht, was sie so allein tun sollte. Ruth hat in dieser Zeit viel geweint. Auch den Großvater haben sie geholt und nach Buchenwald gebracht.

Der Großvater hat aber den Bürgermeister von Hildesheim, der kein Nazi war, gut gekannt. Er hatte ihm auch die Liste mit den Namen gegeben, und der Bürgermeister hat dann dafür gesorgt, dass diese Kinder aus der Schule rauskommen konnten. Nochmal betont Ruth Krammer, dass sie nicht weiß, was aus den anderen Kindern, die mit in der Schule waren, wurde – dass sie sie nie mehr gesehen hat. Die Großmutter rief nun den Bürgermeister an und berichtete ihm, dass man den Großvater nach Buchenwald gebracht hat. Er versuchte wohl etwas zu unternehmen, denn kurz darauf, wurde auch er von den Nationalsozialisten fortgebracht. Aber weil er ein alter Mann mit Herzproblemen war, durfte er nach einer Woche wieder heimkehren.

47:44 - 49:00

Tod des Englischlehrers

Weil die Eltern wollten, dass sie Englisch lernte, ging Ruth Krammer ein- bis zweimal pro Woche zum privaten Englischunterricht bei einem Engländer namens Zimmendorf, der schon viele Jahre in Deutschland wohnte. Er war kein Jude, er wusste aber, dass er nicht mehr raus Deutschland rauskommen würde. Eines Tages sprang er deshalb aus dem Fenster und beging Selbstmord. Ihr wurde nur gesagt »Du gehst da nicht mehr hin. Er ist tot.« Für sie war das schrecklich, immer wieder diese Nachrichten zu hören, dass dieser oder jener tot oder fort sei. Sie verstand nicht warum, denn die Menschen hatten doch nichts Böses getan.

49:00 - 53:00

Mutige Mutter

Sie wussten nicht, was sie tun sollten und wie sie noch aus Deutschland rauskommen konnten. Die Männer in der Familie hatten Deutschland immer als ihre Heimat gesehen und gemeint, hier gehörten sie her. Der Großvater war sich sicher, dass die Herrschaft der Nationalsozialisten auch eines Tages wieder vorüber sein würde. So hatte er zu den Auswanderungsplänen auch immer nur gemeint »Wartet doch noch ein bisschen.« Ihr Vater und ihre Mutter sahen das anders und wollten – sobald sie die Erlaubnis bekämen – ausreisen.

Ihre Mutter hatte ein starkes Temperament, die blauen Augen unter dem blonden Haar blitzten richtig. In der schwierigen Zeit erwies sie sich als echte Heldin, wie Ruth Krammer später erzählte. Sie hatte all ihren Mut zusammengenommen und ist zur Gestapo gegangen, wo man sie zuerst nur fragend angeschaut hat. Sie sah ja überhaupt nicht jüdisch aus. Als man sie fragte, was sie wolle, gab sie zur Antwort: »Ich will meinen Mann zurück.« Der Offizier wollte wissen, wo ihr Mann denn sei, woraufhin sie antwortete, dass man ihn nach Dachau gebracht habe. Auf die Frage, warum man ihn weggebracht habe, erwiderte sie, dass sie das nicht wisse. Da wurde sie gefragt, ob er denn Jude sei. Als sie mit »ja« antwortete, meinten die Gestapo-Leute, sie solle nur aufpassen, dass man sie nicht auch gleich wegbringe. Dabei wussten sie genau, wer sie war, und dass zur Familie auch noch Kinder gehörten. Schließlich haben sie die Mutter wieder nach Hause geschickt.

Aber sechs Wochen später stand der Vater vor der Tür. Die Mutter brachte ihn ins katholische Krankenhaus. Dort wurden auch Juden noch behandelt - sie konnten ja nicht in jedes Krankenhaus gehen. Der Vater war mit einer schweren Lungenentzündung aus Dachau zurückgekehrt und sie wussten nicht, ob er überleben würde. Doch er wurde wieder gesund und kehrte zur Familie zurück.

53:00 - 56:57

Bevorstehende Ausreise und Kindheitserinnerung

Als der Vater aus dem Krankenhaus entlassen wurde, sagte man ihnen, sie sollen nach Stuttgart zur amerikanischen Botschaft reisen. Es wurde ihnen sehr schwer, den Großeltern, die sonst keine Kinder hatten, diese Nachricht mitzuteilen, dass sie womöglich bald ausreisen würden, wenn alles klappt.

Mit ihrem Vater hat sich Ruth Krammer – im Gegensatz zum Verhältnis mit ihrer Mutter -immer gut verstanden. Wenn der Vater unterwegs war, hat er Ruth immer etwas mitgebracht. Sie beide fanden es lustig, dass sie sich nie wie andere Kinder Süßigkeiten gewünscht hat, sondern Senf. Als der Vater nach dem Dachau-Aufenthalt wieder in Essen als Vertreter arbeitete, fand sie eines morgens als Reise-Mitbringsel ein Senftöpfchen mit einem kleinen Gedicht vor. Der Vater hat regelmäßig Gedichte verfasst, von denen auch viele im Museum aufbewahrt sind. In der Familie gab es eine poetische Ader, die nicht zuletzt durch die Verwandtschaft mit Heinrich Heine unterstrichen wurde. Und niemand konnte es verstehen, warum sie als kleines Mädchen keinen Zucker, sondern Senf haben wollte.

Noch einmal berichtet Ruth Krammer, wie schwer es ihnen fiel, zu den Großeltern nach Hildesheim zurückzukehren, um sie von der Fahrt nach Stuttgart und der möglichen Ausreise nach Amerika zu unterrichten.

56:57 - 59:33

Das Verschwinden von Gusti

Als Ruth Krammer und ihre Freundin Gusti am Morgen nach der Kristallnacht von der Schule heim zum Haus der Großeltern gebracht wurden, hat ihre Großmutter Gusti anschließend zu ihren Eltern begleitet. Am Tag darauf wollte sie Gusti besuchen. Als Ruth Krammer zum Haus kam, stand da wieder die SS. Ein SS-Mann fragte sie, ob sie ihre Freundin sehen wolle. Ruth war völlig aufgewühlt. Sie sagte »ja«, woraufhin der Mann zu ihr sagte: »Geh rauf, sieh nach deiner Freundin. Kannst raufgehen, die warten da auf dich.« Aber als sie hoch ging, war die ganze Wohnung leergeräumt. Es war kein Anzeichen mehr von Gusti, ihren Eltern oder den vier Geschwistern zu sehen. Sie fragte Arbeiter, die gerade die Wände weiß strichen, wo die Familie ist. Die lachten sie jedoch nur aus und gaben ihr zur Antwort, dass sie nichts wüssten. Ruth rannte ganz schnell nach Hause und berichtete, dass Gusti und ihre ganze Familie verschwunden sei. Die Großmutter versuchte noch mit dem Telefon Bekannte zu erreichen, um in Erfahrung zu bringen, was mit Gustis Familie passiert ist – aber bei ganz vielen anderen ging auch niemand an den Apparat. Ruth konnte die ganze Zeit an nichts anderes mehr denken als an ihre Freundin Gusti. Leider hat sie sie nie mehr gesehen. Das war derselbe Tag, an dem auch der Großvater nach Buchenwald gebracht wurde. Ihr wurde in dem Augenblick klar, dass die beste Zeit – die Zeit, wo sie unbekümmert mit ihrer Freundin bei den Großeltern sein durfte – vorüber war.

59:33 - 1:03:31

Feier zum Sabbatbeginn

Als die Zeit kam, dass die Auswanderungspläne konkret wurden, da hat Ruth Krammer gedacht, dass die schönste ihrer Kindheit die war, die sie zusammen mit den Großeltern verbracht hat. Eine besondere Erinnerung sind die Sabbatfeiern am Freitagabend. Der Freitag war immer ein besonderer Tag. Der Tisch wurde mit einer weißen Tischdecke, Silberbesteck und schönem Geschirr von Rosenthal gedeckt. Das umfangreiche Geschirr, das für 36 Tischgäste reichte, hat Ruth Krammer aufbewahrt, jedoch musste sie es vor wenigen Jahren aus Geldgründen verkaufen.

Es gab freitags jedoch ein Problem, über das Ruth Krammer schmunzelnd berichtet: Die Badewanne war mit einem großen Karpfen besetzt. Ihre Schwester sei bei dem Anblick des in Zwiebeln schwimmenden Fisches schreiend rausgerannt, erzählt Ruth Krammer. Als erstes kamen dann abends die Zwiebeln und eine Hühnerbrühe auf den Tisch. Die nahrhafte Suppe bezeichnete man in Amerika oft auch als »jüdisches Penicillin«. Danach wurden dann die weiteren Gänge aufgetischt. Dabei ging es sehr festlich zu, meist waren auch Gäste zum Sabbatbeginn eingeladen. Die Großeltern waren zwar nicht religiös, aber sehr stolze und traditionsbewusste Juden.

1:03:31 - 1:13:45

Jüdisches Bewusstsein und jüdische Feste

So wie ihre Großeltern war und ist auch Ruth Krammer bis heute stolz darauf Jüdin zu sein. Als Kind in Deutschland wurde sie immer wieder als »dreckige Jüdin« beschimpft. Sie hat sich darüber bei ihrem Großvater ausgeweint und gemeint, sie sei doch nicht dreckig. Die Antwort des Großvaters war, dass er sagte: »Ich will, dass Du lernst, dass Du immer eine stolze Jüdin bist.« Er riet ihr, sich nicht darum zu kümmern, wenn andere sie beschimpfen, sondern zu zeigen, dass sie stolz auf ihre jüdische Abstammung ist. Sie folgte den Worten des Großvaters und es ging wirklich, auch wenn ihr der jüdische Glauben – wie jegliche Religion - bis heute fremd ist. Ihre Religion, sagt sie, sei die Natur, die vielen schönen Dinge, die es um sie herum gibt. Aber nach all den Erfahrungen in ihrem Leben fragt sie bis heute: »Wo warst Du, Gott, bei all dem Schlimmen?« Und so wie ihr würde es vielen ergehen. Ruth Krammer sagt, sie sei sehr sensibel, wenn jemand Kindern oder Tieren Leid antut. In dem Zusammenhang berichtet sie auch von ihrem ersten Haustier, einem Chamäleon namens Kuno, das sie als fünfjähriges Kind in Hildesheim geschenkt bekommen hatte. Ruth Krammer schildert, wie sie Kuno in Unwissenheit zu Tode gepflegt hat, und wie Kinder auch sonst oft sehr grausam zu Tieren und Schwächeren sein können. So bspw. auch zum Enkelsohn des Lehrers, den sie als Kinder schikaniert hatten.

Ihre Erinnerungen an Hildesheim verbindet sie mit vielen jüdischen Festen wie die Chanukkafeier oder das Passahfest im Haus der Großeltern. Das war der größte Tag im Jahr. Die Tür zum Esszimmer war geschlossen, damit die Feier in Ruhe vorbereitet werden konnte und die Kinder nicht reingingen. Bei diesen Festen war es immer sehr schön, und jedes Mal waren auch Gäste dabei.

1:13:45 - 1:17:45

Abschied von Deutschland

Dann ging die Familie nach Stuttgart zur amerikanischen Botschaft. Das erste Mal in ihrem Leben begegnete Ruth Krammer Amerikanern. Deren Freundlichkeit hat sie sehr beeindruckt – aber auch die Körpergröße des ersten Amerikaners, dem sie begegnet ist. Während der Tage in Stuttgart wohnten sie in einem Hotel, wo alles schön für die Familie hergerichtet war. Weil der Vater ja krank war, hatten sie zunächst Angst, dass sie die Papiere vielleicht nicht bekommen würden. Doch alles hat gut geklappt, und sie bekamen die Papiere zur Ausreise. Gerade der erste, besonders große Amerikaner forderte sie auf, möglichst schnell zu gehen. Sie sollten schauen, dass sie aus Deutschland herauskämen, weil der Vater nicht nur als Jude verfolgt würde, sondern sie ihn ja auch schon wegen seiner politischen Ansichten verhaftet hatten.

Anschließend fuhr die Familie nach Hildesheim zurück, wo der Großvater meinte, sie sollten doch noch ein bisschen zuwarten. Aber die Eltern erwiderten, dass das nicht gehen würde. So reisten sie im Mai 1939 zusammen mit vielen anderen jüdischen Familien mit dem Zug nach Holland. An der Grenze standen die Nazis und stoppten den Zug. Aus jedem zweiten Abteil wurden die Fahrgäste herausgeholt und abgeführt. Ruth Krammers Familie war noch im Zug, aber ihnen war klar, dass wenn man sie jetzt abführen würde, würden sie nie wiederkommen. Einen Ring mit der Hildesheimer Rose, den sie von ihrem Großvater zum Abschied bekommen hatte, versteckte Ruth Krammer ganz tief in ihrer Tasche. Aber die Familie hatte Glück und ihr Abteil wurde verschont, so dass sie die Grenze überqueren konnten.

1:17:45 - 1:21:49

Freiheit

Der freundliche Empfang durch die Holländer hat Ruth Krammer in sehr guter Erinnerung. Ungefähr eine Woche hat sich ihre Familie in Holland aufgehalten, bevor sie das Schiff nach Amerika bestiegen.

Die große und laute Metropole New York machte auf Ruth Krammer, die in Hildesheim aufgewachsen war, einen tiefen Eindruck. Als die Familie in Amerika ankam, besaß sie 35,-$: 10,-$ für die Schwester und die Eltern, und für sie als Kind 5,-$. Sonst hatten sie nichts und wussten auch nicht, wo sie hingehen könnten. Eine Organisation half ihnen und brachte sie in einer sehr einfachen Unterkunft unter, wo sie auf engstem Raum mit fremden Menschen leben mussten. Aber man half ihnen zumindest so gut man konnte. Auch der Tante sind sie noch begegnet, die zwar selbst nicht helfen konnte, die aber danach schaute, dass Bekannte von ihr ihnen etwas später halfen.

In der Notunterkunft blieb die Familie zwei oder drei Wochen. In diese Zeit fiel auch Ruth Krammers 11. Geburtstag am 13. Juni. An diesem Tag gab ihr der Vater einen Kuss und erklärte ihr, dass sie dieses Jahr leider kein Geschenk bekommen könne, weil sie kein Geld haben, mit dem sie etwas kaufen könnten. Aber für Ruth war das Wichtigste ohnehin, dass sie keine Angst mehr haben musste. Schon in der Minute als sie über die holländische Grenze fuhren, war diese ständige Angst von ihr abgefallen. Sie beschloss, dass sie nie mehr solche Angst fühlen wollte, und dass sie nie nach Deutschland zurückkehren würde. Sie wollte auch nicht mehr Deutsch sprechen und lernte sehr schnell Englisch.

1:21:49 - 1:24:33

Geburtstagsüberraschung

In der Unterkunft tauchte an diesem 13. Juni 1939 eine junge Frau auf, die ein großes Paket bei sich hatte, und nach einer Ruth Loeser suchte. Sie sprach Ruth auf Englisch an, die zu diesem Zeitpunkt – im Gegensatz zu ihren Eltern, die sowohl Englisch als auch Französisch sprachen – nur wenig Englisch konnte. Die fremde Frau sagte, sie suche eine Ruth Loeser, weil sie gehört habe, dass heute ihr Geburtstag sei. Dann schaute sie Ruth Krammer noch einmal fragend an und meinte auf Deutsch: »Geburtstag?« Da antwortete Ruth mit »ja«, und die Frau hob den Deckel von der Schachtel. Darinnen befand sich ein Kuchen mit Kerzen, wie ihn Ruth Krammer noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Jeder bekam ein Stück Kuchen und anschließend sagte die Frau: »Heute kommst Du mit mir. Wir feiern den Geburtstag.« Ruth Krammer wusste nicht so recht wie ihr geschieht und fragte den Vater, ob die Frau denn auch Jüdin sei. Da machte ihr Vater ihr klar, dass sie nicht mehr in Deutschland war, sondern in Amerika, wo es keine Rolle spielte, ob man jüdisch war oder nicht. Ruth konnte es nicht richtig verstehen, warum eine unbekannte Frau so nett zu ihr war. Die Frau nahm sie bei der Hand und zusammen gingen sie zum Central Park. Sie verbrachten den Tag zusammen, Ruth Krammer bekam Eiscreme und andere Dinge. Als sie zurückkam – so schildert sie - war sie ein anderes Kind. Zum Vater sagte sie bei der Rückkehr, dass sie glaube, dass in dieser Stadt niemand jüdisch sei (Anm.: Weil es keine Kennzeichnung gab und ihr niemand als Jude aufgefallen war). Aber der Vater lachte nur und meinte, sie müsse das jetzt lernen (Anm.: Dass hier alle Menschen gleich sind und sich frei bewegen können)

1:24:33 - 1:27:35

Hilfe von Fremden

Dann machten sie sich auf die Suche nach den Bekannten der Tante. Die Reise war für ihre Schwester schrecklich, da ihr schnell übel wurde. Am Bahnhof kam ein Mann auf sie zu und fragte, ob sie die Familie Loeser seien. Es stellte sich heraus, dass es der Chauffeur war, der sie in einer großen Limousine abholen sollte. Auch das Haus, zu dem sie gefahren wurden, war riesig. Die Bekannten der Tante lebten schon seit vielen Jahren in den USA. Sie waren sehr nett zu Ruth Krammer und ihrer Familie. Und da sie keine eigenen Kinder hatten, hätten sie Ruth am liebsten adoptiert. Es kam zu einem richtigen Streit, den Ruth Krammer mitgehört hat. Sie selbst wäre gerne in dem großen Haus geblieben und hat sich schon ein Leben als kleine Prinzessin ausgemalt. Aber für die Eltern kam das überhaupt nicht in Frage.

1:27:35 - 1:29:19

Weiterreise nach Chicago

Nach einigen Tagen zog die Familie Loeser weiter nach Chicago. Der Kontakt zu den Bekannten der Tante blieb bestehen, sie gaben ihnen auch Geld, damit sie weiterkommen konnten. In Chicago war bereits ein Onkel mütterlicherseits. Er wohnte mit seiner Familie in einem kleinen Appartement, in das auch die Loesers einzogen. Das Problem war nur, dass Ruth Krammers Mutter und deren Bruder wie Katz und Maus waren, auch wenn die Familie insgesamt sehr nett zu ihnen gewesen ist. Einer der Streitpunkte war die zionistische Einstellung des Onkels, was Ruth Krammer als Kind aber nicht wirklich verstand. Ihr Vater versuchte sich ganz herauszuhalten.

1:29:19 - 1:31:26

Leben in Chicago

Nach einem Jahr fand Ruths Familie dann eine eigene Wohnung. Alle außer Ruth, die noch zur Schule ging, mussten arbeiten. Der Vater verdiente als Fensterputzer 10$ pro Woche. Die Mutter und Schwester bekamen jeweils 5$ in der Woche für das Nähen von Lederhandschuhen bzw. als Putzfrau. Aber nach der Wirtschaftskrise in den 1930ern ging es auch den Menschen in den USA nicht gut, so dass sie froh waren, überhaupt Arbeit zu haben. Von dem wenigen Geld wurde immer auch noch ein bisschen zur Seite gelegt, weil sie die Großeltern nachholen wollten.

1:31:26 - 1:37:12

Die Großmutter kommt nach

1941 hatten sie dann genug Geld beisammen, um es den Großeltern zu schicken. Als Ruth Krammer eines Tages von der Schule kam, teilte ihr die Nachbarin mit, sie solle zu ihr kommen, sie hätte eine Überraschung für sie. In der Wohnung saß ihre Großmutter, diese kleine zierliche Frau, die Ruth herzlich begrüßte. Der Großvater hatte nicht mehr kommen können. Er war noch am selben Tag, als die Nazis ihn zum zweiten Mal holen wollten, tot umgefallen, weil einfach alles zu viel für ihn war.

Die Großmutter dagegen bekam einen Platz auf einem Schiff nach Kuba. Die Kubaner ließen die jüdischen Flüchtlinge jedoch nicht ins Land, sondern schickten sie wieder zurück nach Lissabon oder Deutschland, wo viele von ihnen umgebracht wurden. Aber irgendwie hatte es die Großmutter geschafft, von Bord zu kommen. Auf einem Zettel hatte sie die Chicagoer Adresse von Ruths Familie, und mit diesem Zettel schlug sie sich von Kuba bis nach Chicago durch, obwohl sie da schon sehr krank und gebrechlich war. Die Großmutter lebte noch 1 ½ Jahre mit der Familie in Chicago, bevor sie verstarb.

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Ruth Krammers erste Jahre in Amerika

Ruth Krammer war schon mit 16 Jahren mit der Schule fertig, weil sie eineinhalb Klassen übersprungen hatte. Sie selbst fand das nicht so gut. Sie sagt, dass es für sie schwer war, weil sie immer die jüngste gewesen ist, und mit deutlich älteren Schülern in der Klasse zusammen war.

Als Ruth Krammer gerade als Mitarbeiterin in einem Sommercamp war, kam ein Brief, dass die Großmutter verstorben sei. Für Ruth war das sehr schlimm, denn die Großmutter war viel mehr eine Mutter für sie, als ihre eigene.

1945 machte R. Krammer ihr Abitur, doch studieren konnte sie nicht. Zum einen war sie zu jung, und zum anderen kehrten zu diesem Zeitpunkt auch die ganzen Soldaten aus dem Krieg zurück, die dann Vorrang hatten.

So kam es, dass Ruth Krammer an die »Academy of Arts« ging. Dazu gehört auch eine kleine Anekdote. Obwohl die Familie Loeser nur wenig Geld hatte, schenkte ihr der Vater damals zum Chanukka-Fest eine Karte für die Oper. Zwar hatte Ruth Krammer schon zuvor selbst immer wieder für sich gesungen, aber von diesem Konzert kam sie so ergriffen zurück, dass sie daraufhin auch zuhause immer wieder Passagen aus der Aida sang. Leider war das Einkommen der Eltern zu gering, um Ruth ein Studium finanzieren zu können. Aber über ein Stipendium wurde es ihr dann doch ermöglicht, so dass sie sechs Jahre an der »Academy of Arts« u.a. Gesang studierte.

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Erste Liebe

1943 zog in ihr Haus in Chicago eine Familie ein, die drei Kinder hatte: zwei Töchter, die im Alter von Ruth Krammer und ihrer Schwester waren, und einen Sohn. Dieser war vom Alter her zwischen den beiden Töchtern und war Soldat. Die Familie stammte ursprünglich aus Luxemburg und musste ebenfalls flüchten. Der Vater war Jude, die Mutter entstammte einer nicht-jüdischen österreichischen Familie. Ruth Krammer verliebte sich in den Sohn Paul und die beiden verbrachten viel Zeit zusammen. Sowohl Pauls Schwester als auch seine Eltern mochten Ruth und begrüßten die Beziehung. Einmal nahm die Mutter sie beiseite und zeigte ihr einen Ring, den sie bei der Hochzeit bekommen würde. Doch so weit dachte Ruth Krammer noch gar nicht. Als sie 16 oder 17 Jahre alt und Paul im Heimaturlaub war, verlobten sie sich tatsächlich. Sie wollten am gleichen Tag heiraten, an dem Ruths Eltern den 25. Hochzeitstag hatten. Ihre Mutter hat nicht viel dazu gesagt, sie hat sie nur gefragt, ob sie denn mit ihm auch nach Luxemburg gehen würde, wenn er dahin zurückkehren wollte. Für Ruth Krammer war das selbstverständlich.

Alles wurde geplant und vorbereitet. Die Mutter schwieg während dieser ganzen Zeit. Aber zwei Wochen vor der Hochzeit wartete Paul vor dem Haus auf sie und erklärte ihr, dass es aus sei. Ruth verstand überhaupt nicht was los war, denn für sie beide brach in dem Moment eine Welt zusammen. Es stellte sich heraus, dass Ruths Mutter das Ganze unterbunden hatte, indem sie das Einverständnis zur Hochzeit verweigerte, welches Ruth Krammer wegen ihres Alters gebraucht hätte. Es war eine harte Zeit für beide und Paul kehrte nach Luxemburg zurück, als sein Vater einen Herzinfarkt hatte.

1:47:40 - 1:52:40

Ruth Krammer begegnet ihrem Mann

In Chicago gab es eine Gruppe junger Auswanderer aus Deutschland. Zum einen hatten sie alle noch wenig Kontakt zu Amerikanern, und zum anderen fühlten sie sich durch ihre Geschichte verbunden und wollten einfach gerne beieinander sein. Untereinander sprachen sie aber – wie auch zuhause – Englisch. Niemand wollte Deutsch sprechen. Einmal war sie gerade beim Tischtennisspielen mit ihrem damaligen Freund, als ein gut aussehender Mann dazukam. Es war ein sehr kalter Tag, und dieser Mann fragte, wen er in seinem Auto nach Hause bringen solle. Ruth Krammer meinte zunächst, ihr Weg sei nicht weit, sie würde die zwei Blocks heimlaufen. Aber der junge Mann überzeugte sie, dass sie bei dieser Kälte doch mitfahren solle. Es waren noch drei oder vier andere aus der Gruppe dabei, die er nach Hause brachte, aber sie war die Letzte, die dann ausstieg. Beim Abschied fragte er, ob sie nicht mal mit ihm ausgehen wolle, worauf Ruth Krammer erwiderte, dass er zu alt für sie sei. Er fragte sie, auf wie alt sie ihn denn schätze. Vielleicht 35 Jahre, antwortete Ruth Krammer, und da sei sie viel zu jung dafür. Aber er meinte, er sei nur 27 Jahre alt. Trotzdem wollte sie nicht mit ihm ausgehen. Sie wusste auch nicht, wie ihre Mutter reagieren würde.

Kurze Zeit später besuchte sie in Minneapolis Verwandte. Den Flug zurück hat sie noch in schlechter Erinnerung. Als sie spätabends wieder in Chicago landet, weiß sie zunächst nicht, wie sie wieder nach Hause kommen soll. Sie ruft ihren Vater an, der meint, sie solle sich ein Taxi nehmen, er würde es bezahlen. Als sie gerade auf der Suche nach einem Taxi ist, begegnet sie wieder Bob Krammer. Sie fragt ihn, was um alles in der Welt er hier auf dem Flughafen mache, worauf er ihr zur Antwort gibt: »Ich habe den ganzen 25. Juli 1948 hier verbracht, um auf Dich zu warten.« Ruth fällt ein, dass sie ja immer noch nicht weiß, wie sie nach Hause kommen soll, und fragt ihn deshalb, ob er sein Auto dabei habe und sie vielleicht heimfahren könne. Er erwidert, sie habe doch Füße zum Laufen – und nimmt sie dann aber doch mit. Der Vater hält ihn für den Taxichauffeur und hat schon das Geld parat. Aber Ruth sagt nur: »Vater, das ist Bob Krammer.« Dann ist es eine Weile still, bis der Vater fragt, wo sie ihn den aufgelesen habe. Doch Ruth antwortet: »Nicht ich habe ihn mitgenommen, sondern er mich.« Bob Krammer hatte da immer noch vor, sie auf ein Date auszuführen.

1:52:40 - 1:57:20

Verlobung und Hochzeit

Es dauerte nicht lang, bis Bob ihr seine Geschichte erzählte. Er war verheiratet und noch nicht geschieden. Bob Krammer stammte aus Ungarn, seine ganze Familie war in Auschwitz umgebracht worden. Die Kanadier hatten ihn gefangen genommen und in ein Arbeitslager mit Deutschen und Italienern gebracht. Obwohl er den Kanadiern erklärt hatte, dass er Jude war und nicht mit Nazis in einem Lager sein wollte, hielten sie ihn dort zweit Jahre fest. Anschließend ging er zur kanadischen Armee. Als der Krieg vorüber war, ging er nach Kanada, wo er seine erste Frau kennenlernte. Doch Bob Krammer war durch die Erlebnisse stark traumatisiert und seiner erst 18jährigen Frau fiel es schwer, damit umzugehen, so dass sie ihn verließ – auch wenn sie weiterhin Freunde blieben. Die Scheidung wurde im November rechtskräftig und am 7. November heirateten Ruth und Bob Krammer.

Ruths Mutter hatte es auch Bob nicht einfach gemacht und ihn mit Fragen wie »Wer bist du?« und »Woher kommst du?« ausgehört. Auch ob er ein Zionist sei, wollte sie wissen, worauf Bob erwiderte: »Was für eine Frage ist das?!« Aber er hat die Prüfung bestanden und sie haben sie sich verlobt.

Eine Woche vor der Hochzeit hörte Ruth Krammer wieder einen heftigen Streit. Sie ging ins Zimmer und fragte, was los sei. Die Mutter war empört, weil Bob eventuell mit Ruth nach Palästina – wie sie Israel auch nach der Staatsgründung noch nannte – auswandern wollte. Die Mutter wollte das gerne verhindern, dass ihre Tochter möglicherweise nach Palästina auszuwandert. Aber Ruth gab ihr zur Antwort, dass sie letztes Mal, als die Sache mit Paul war, 17 Jahre alt gewesen war, jetzt aber 19 sei, und wenn die Mutter jetzt noch einmal Schwierigkeiten machen wolle, dann würde sie Bob auf der Stelle – ohne Rabbiner, sondern nur auf dem Standesamt – heiraten. Daraufhin hatte die Mutter nachgegeben.

1:57:20 - 2:01:00

Erste Ehejahre

Bob und Ruth haben wie geplant geheiratet und weiter in Chicago gelebt. Bob Krammer machte seinen Masterabschluss als Bauingenieur, und nach 10 Monaten kam ihre erste Tochter zur Welt. Bis sie ein richtiges Appartement fanden, lebten sie zu dritt in einer ganz kleinen Einlieger-Wohnung, weil es auch in Chicago nach dem Krieg eine Wohnungsknappheit gab.

Bald darauf starb der schon recht alte Arbeitgeber ihres Mannes, was für Bob Krammer die Chance war, etwas Neues zu beginnen. Er fing an, die Stellenanzeigen zu studieren. Ruth Krammer hatte jedoch eine große Bitte an ihren Mann und sagte zu ihm: »Bitte nicht Detroit und nicht Pittsburgh!« Er erwiderte jedoch, er müsse doch erst schauen, was es an Stellen gibt. Eines Tages rief er zuhause an und berichtete von einem guten Angebot aus Pittsburgh. Ruth Krammer erwiderte darauf, dass sie ja versprochen habe, überall da hin zu gehen, wohin er gehen würde, und fragt ihn: »Muss ich nach Pittsburgh?!« Bob will sich das Angebot zumindest erst einmal anschauen. Dann ruft er sie an und sagt: »Ich hatte nicht das Herz Dir zu sagen, dass Du hierherkommen und in Pittsburgh leben musst, deshalb habe ich das Angebot abgelehnt.«

Bald danach gab es eine ähnliche Situation – dieses Mal war es Detroit. Detroit war nicht ganz so weit von Chicago weg, und das Angebot war sehr gut. Die Firma dort wollte ihm das Doppelte von dem bezahlen, was er jetzt bekam. Er müsse gehen und sich das anschauen, meinte Bob Krammer, schließlich hätte er ja auch eineinhalb Kinder zu versorgen. Also ging er zum Bewerbungsgespräch. Anschließend rief er seine Frau an und berichtete, dass sie das ursprüngliche Angebot sogar nochmal um das Doppelte angehoben hätten. Er würde ein Jahresgehalt von 10.000$ bekommen, was damals sehr viel Geld war. Da fand Ruth Krammer, dass sie dagegen keine Einwände mehr vorbringen konnte, und wohl gehen müsse.

2:01:00 - 2:08:02

Detroit

Als erstes fiel Ruth Krammer der starke Gegensatz zwischen dem schönen Chicago mit all seinen Parks und der Industriestadt Detroit auf. Sie fanden zwar eine schöne Wohnung, aber ihr Mann wollte noch in der ersten Woche wissen, ob sie denke, dass sie es in Detroit aushalten könne. Ruth Krammer machte mit ihm den Deal, dass wenn sie sich in fünf Jahren eingelebt hätten, es für sie in Ordnung wäre, dass sie blieben. Er war einverstanden und meinte, wenn nicht, dann würden sie wieder nach Chicago zurückgehen.

In Detroit lebten sie sich gut ein und Bob Krammer machte Karriere. Eines Tages erhielt er ein Angebot für eine Tätigkeit in Saudi Arabien im Auftrag der Vereinten Nationen. Doch nach Saudi Arabien wollte er nicht gehen, er nahm aber einen Beratungsauftrag in Israel an, den er so erfolgreich ausführte, so dass er sogar eine Auszeichnung dafür bekam.

Zu der Zeit, als er zurückkehrte, gab es Unruhen und viel Kriminalität in Detroit, die Krammers zum Wegzug in eine andere Gegend zwangen. Zwei Jahre später bekam Bob Krammer erneut einen Anruf mit der Bitte, wieder für drei oder vier Monate ins Ausland zu gehen. Er hätte gerne seine Frau Ruth zu diesem Einsatz mitgenommen. Doch das ging nicht, da sie damals vier Kinder im Teenageralter hatten, die sie unmöglich für mehrere Monate alleine zurücklassen konnten.

2:08:02 - 2:13:23

Zweiter Auftrag für die UNO in Israel

Als er vom zweiten Einsatz zurückkehrt, sagt Bob Krammer zu seiner Frau, dass das das letzte Mal gewesen sei, dass er so einen Auftrag angenommen habe. Er war auch gesundheitlich ziemlich angegriffen, da er parallel noch seine Firma mit zahlreichen Angestellten leiten musste. Dazu war die Arbeit sehr gefährlich. Das erste Mal hatte er eine Briefbombe erhalten. Das zweite Mal war er zu einer Zeit unterwegs, als drei Flugzeuge entführt worden waren. Ruth Krammer hörte eine Woche lang nichts von ihrem Mann. Niemand wusste, wo er war, weshalb sie sich große Sorgen machte. Sie hatte schon vor, in der UN-Zentrale in New York anzurufen, als sie in der Nacht davor ein Telegramm erhält, worin ihr Mann ihr mitteilt, dass er in Jerusalem ist und alles in Ordnung sei.

Bob Krammer fühlte sich immer wieder sehr schlecht, aber nicht nur der Arzt, sondern auch die Familie dachte, dass die viele Arbeit Schuld daran wäre. Denn Bob war ein Mensch, der immer alles perfekt machen wollte. Auch die UNO hatte Interesse daran, dass ihre Mitarbeiter gesund waren, weshalb er mehrfach untersucht wurde, ohne dass jemand etwas feststellen konnte. Als er 1973 wieder in Jerusalem war, wollte Ruth Krammer nachreisen, weil in diese Zeit ihr 25. Hochzeitstag fiel. Doch dann brach der Jom-Kippur-Krieg aus und Bob schickte ihr ein Telegramm, dass sie nicht kommen solle. Ruths Antwort war, wenn er jetzt nicht wolle, dass sie kommt, dann würde er sie nie mehr wiedersehen. Auch ihr Vater wollte ihr die Reise ausreden. Aber sie hatte bereits das Ticket und flog, obwohl sie jeden Tag Anrufe bekam, ob denn nicht ihr Platz im Flugzeug frei würde.

Bob holte sie am Flughafen ab. Das erste, was er ihr gab, war ein Leibwächter. Sie wollte das nicht, aber es war Vorschrift und sowohl die USA wie die UNO bestanden darauf.

2:13:23 - 2:17:15

Konversion der Schwester zum Katholizismus (Schilderung auf Englisch)

Die Schwester von Ruth Krammer war Arzthelferin und hatte sich mit einem 27 Jahre älteren Arzt verheiratet, der an einem Krankenhaus in der britischen Besatzungszone in Berlin arbeitete. Damit sie dort arbeiten konnten, wurden beide katholisch. Ruth Krammer hat es nie verstanden, warum ihre Schwester und ihr Mann zum Katholizismus wechselten. Nach all dem was ihre um einige Jahre ältere Schwester gesehen haben musste, und wie sie versucht hatten, von all dem (Anm.: in Deutschland) wegzukommen. Sie bat den Bekannten, der ihr das mitgeteilt hatte, darum, dass es niemand den Eltern erzählen sollte, weil sie befürchtete, dass es sie umbringen würde. Mit ihrer Schwester sprach sie nie darüber, auch deshalb, weil es allgemein wenig Kontakt mit der Schwester gab, da sich Ruth Krammer mit deren Mann schwer tat. Schon dass die beiden zurück nach Deutschland zogen, war für Ruth Krammer unverzeihlich.

2:17:15 - 2:18:23

Früher Tod des Mannes

Bob Krammer kam sehr krank aus Israel zurück. Man stellte fest, dass er Leukämie hat, woraufhin sie ihrer Schwester schrieb, dass er nicht mehr lange zu leben habe. Für Ruth Krammer war das eine schwere Zeit, denn sie schätzte ihren Mann Bob auch nach all den Jahren noch sehr. Sie war erst 49 Jahre alt, als sie Witwe wurde.

2:18:23 - 2:24:50

Bobs bester Freund Schimschon (Englisch)

Vor Bobs Tod wusste sich nicht viel über dessen besten Freund Schimschon, nur, dass Bob immer von seinem Zwillingsbruder sprach. Auch Ruth Krammer bezeichnet sie als unzertrennlich. Die beiden waren zusammen in Budapest aufgewachsen. Als sie 18 oder 19 Jahren alt waren, wurden sie getrennt, als Schimschon versuchte nach Palästina auszuwandern. Dass er das unter schwierigsten Bedingungen überhaupt überlebt hat, grenzte an ein Wunder. Ihr ganzes Leben lang hat Ruth Krammer immer wieder von Schimschon gehört, was er denkt, wie er ist und was er macht. Bob sagte immer wieder: »Eines Tages wirst Du ihn kennenlernen.« Zum ersten Mal begegneten sie sich dann, als sie 1973 nach Israel kam, um ihren Mann zu besuchen. Als sie da die beiden Männer zusammen sah und wahrnahm, welche gegenseitige Liebe und Fürsorge die Beziehung kennzeichnete, wurde ihr klar, welch besondere Freundschaft die beiden Männer verband.

Zu Bob meinte Ruth Krammer einmal halb scherzhaft, dass er Glück gehabt habe, dass er sie zuerst kennengelernt habe, bevor sie Schimschon begegnet sei. Sie fügt aber hinzu, dass sie nichts bereue, und dass sie nie in einem Kibbuz hätte leben wollen.

Nach dem Tod ihres Mannes eröffnete Ruth Krammer ein Reisebüro in Minnesota. Als sie einen Reiseführer für Israel suchte, nahm sie wieder mit Schimschon Kontakt auf. Beide verbrachten unterwegs viel Zeit miteinander. Sie verstanden sich sehr gut und es hat da schon ein bisschen gefunkt. Doch Schimschon war zunächst noch verheiratet. Als auch seine Frau starb, entwickelte sich eine ganz enge Beziehung. Heute hängt sein Bild direkt unter dem von ihrem Mann Bob. Und als Schimschon 2013 starb war es für Ruth Krammer so, als ob sie noch einmal den Mann verlieren würde.

Bob und Schimschon waren sich sehr ähnlich. Beide waren hochintelligent und konnten mehrere Sprachen. Schimschon hatte neben Ungarisch, Englisch, Französisch und Deutsch noch Aramäisch gelernt und arbeitete als Archäologe. Ruth Krammer meinte, es war, wie mit einem Geschichtsbuch zu leben. Durch ihn hat sie mehr von Israel gesehen, als es die meisten Israelis es je tun würden. Er nahm sie zu vielen verschiedenen Orten mit, und doch spürte sie, dass sie anders war als die Menschen in Israel. Sie war Amerikanerin und wollte auch ihren amerikanischen Pass nie abgeben. Außerdem war die Sicherheit in den USA viel höher als in Israel. Ruth Krammer meint, egal was man über die USA sagt und welche Probleme es dort gibt, es sei trotzdem der beste Platz auf der Erde. Wenn sie es gesundheitlich könnte, dann würde sie noch einmal dorthin zurückgehen – auch wenn sie beide Länder liebe, sei es doch mehr Heimat für sie. Und wenn sie sieht, wie die Welt - gerade auch Europa - heute Israel wieder behandelt, regt sie sich auf. Beim Lesen der Zeitungsberichte kommen ihr immer wieder die Tränen, und sie fragt sich, ob denn alles umsonst war.

2:24:50 - 2:26:29

Bleibender Hass auf Deutschland (Englisch)

So meint sie auch am Ende, dass sie Deutschland hasst und immer hassen werde. Das erste Mal als sie in dieses Land zurückkam, war sehr schmerzhaft. Als sie zusammen mit ihrer Schwester in Hildesheim auf dem Platz stand, wo früher die Synagoge war, wollte sie einfach alleine sein. Sie wurde als Gast der Stadt Hildesheim herumgeführt – alles war sehr schön, aber auch ganz anders als damals. Ruth Krammer hat über diesen Besuch in Deutschland einen Bericht auf Englisch geschrieben.

Ganz zum Schluss ruft Ruth Krammer ihre Begleiterin Dorothea Bayer (Mitarbeiterin von Zedakah), die sie als neue Tochter bezeichnet, herbei und meint, es sei doch merkwürdig, dass sie ausgerechnet am Lebensende noch einmal auf eine junge nicht-jüdische Deutsche trifft, die sich liebevoll um sie kümmert.