Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 10

Ghetto Garbatka (1. Januar bis 12. Juli 1942)

Garbatka war nicht nur ein größerer Ort der Region, sondern besaß auch seit 1885 einen Eisenbahnanschluss. Dieser hatte wesentlich zur Entwicklung der Stadt beige-tragen. Bei dem Bau der Eisenbahnlinie war das besondere Mikroklima entdeckt worden, worauf die Stadt zu einem beliebten Sommerkur- und Ferienort entwickelt wurde. Zusätzlich zum Kur- und Ferienbetrieb siedelte sich Industrie an, eine Möbelwerkstatt, Lager für Kohle und landwirtschaftliche Werkzeuge. Die katholischen Einwohner errichteten eine Kirche. Von Bedeutung waren zudem die Staatsforstverwaltung und ein staatliches Sägewerk. 1939 zählte die Stadt über 3.500 Einwohner; die Zahl vervierfachte sich im Sommer durch Kur- und Feriengäste. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beendete jedoch die dynamische Entwicklung der Stadt.

Mordechai, Tante Rajca und ihre Kinder sowie die anderen Juden Jablonows erreichten am Abend des 1. Januar 1942 nach einem langen und beschwerlichen Marsch durch Eis und Schnee das Ghetto in Garbatka, das seit diesem Tag eingerichtet war. Den Juden aus Jablonow wurden kleine, beschädigte Hütten im Armenviertel zugewiesen. Zwei Familien mussten sich eine Hütte teilen.
Im Vergleich zum Leben im Warschauer Ghetto empfand Mordechai die Lage in Garbatka als erträglich. Trotzdem war das Leben im Ghetto hart: Die Menschen litten an Hunger. Hinzu kam der sehr kalte Winter. Mordechai schlief nachts mehr schlecht als recht auf einer Holztruhe, weil es nicht genügend Betten gab. Am Tag suchte er immer wieder Arbeit, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen und um etwas zu tun zu haben. Hin und wieder fand er Gelegenheitsarbeiten und Zwangsarbeiten, die mit etwas Geld oder mit Lebensmitteln entlohnt wurden.
Auch im Ghetto Garbatka lebte Mordechai in ständiger Lebensgefahr. Er hatte keine gültigen Papiere und war dem Ghetto Warschau entflohen. Sollte diese Information in die falschen Hände kommen, drohte ihm die Todesstrafe. Von den Juden, die ihn kannten, wurde er geschützt, doch die Ghettopolizei hatte es auf ihn abgesehen. So lebte er in ständiger Ungewissheit und bestand einen Tag um den anderen.

Seit April 1942 hörten die Bewohner des Ghettos in Garbatka immer wieder von Verfolgungen, Deportationen und Ermordungen von Juden. Die Reaktionen darauf waren sehr verschieden: Unglaube und Beschwichtigungen, Entsetzen und Ängste, Fluchtgedanken, die nicht umgesetzt wurden – wo sollte man mit den Kindern oder Alten auch hingehen? In Garbatka lebten die entfernten Verwandten Chaim und Balcza Flamenbojm, die zwei Kinder hatten. Chaim war Kaufmann. Schon von Jablonow aus hatte Mordechai Chaim hin und wieder besucht. Mordechai hatte großes Vertrauen zu Chaim, der dem jungen Mordechai wie ein väterlicher Freund mit Rat und Tat zur Seite stand.1 Chaim hatte gute Kontakte zu Polen und war clever. Mit dem, was er hatte, stellte er im Ghetto illegal Seife her, die er mit einem Aufdruck »Palmolive« versah und dann an christliche Schwarzhändler verkaufte. Der Ghettokommandant wusste davon und erhielt ein Schweigegeld, ebenso dessen Sohn. Chaim war einer der Juden, die am 12. Juli 1942 erschossen wurden (siehe Kap. 11).

Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 113 – 123.

Am 18. August 1942 wurde das Ghetto Garbatka schließlich liquidiert. Die Juden wurden nach Pionki deportiert. Zum Ghetto Garbatka siehe auch Kap. 11.

Zum ganzen Kapitel:
http://www.garbatkaletnisko.pl/informacje,historia_garbatki_letnisko,31,1.html (10.02.2019, polnische Seite).
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Ghettos_in_der_Zeit_des_Nationalsozialismus (04.01.2019).
http://www.tenhumbergreinhard.de/taeter-und-mitlaeufer/staedte-1933-1945/garbatka.html (03.01.2020).
http://www.tenhumbergreinhard.de/1933-1945-lager-1/1933-1945-lager-g/garbatka-letnisko.html (03.01.2020).

1In seinem Buch bezeichnet Mordechai Chaim als seinen Cousin. Es muss sich eher um einen Großcousin gehandelt haben. Die exakten verwandtschaftlichen Beziehungen sind nicht mehr eindeutig feststellbar.

Autor: Thorsten Trautwein, 06.06.2020