Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 9

Hintergrund: Radom – Opatow – Zwolen

9.1 Radom

Radom ist der Geburtsort Mordechais, aus dem die Familie seiner Mutter stammt. Im Spätsommer 1941 wurden Chaja Riwa und Awraham Jizchak von Szmuel und Perla Kolender, geborene Huberman aufgenommen. Szmuel und Perla (1889 – 1942?) hatten selbst drei Kinder – Matale (geboren 1917, verheiratet), Rachela, Gitale (geboren 1920) – und führten eine Schneiderei im Haus.

Radom wurde am 8. September 1939 von der deutschen Wehrmacht eingenommen. Es kam zu Plünderungen und Gewalt. Die Synagogen wurden entweiht und ihre Einrichtungen zerstört. Christliche und jüdische Führungspersonen wurden erschossen, viele zur Zwangsarbeit verpflichtet. Die Zwangsarbeiter mussten vor allem die Waffenfabrik wiederaufbauen, die beim deutschen Angriff zerstört worden war. Radom gehörte zu den vier größten Städten im Generalgouvernement und diente von 1939 bis 1945 als Hauptstadt des Distrikts Radom. 1940 errichtete die Wehrmacht bei Radom den Truppenübungsplatz Mitte. Hierfür wurden mehrere Dörfer »abgesiedelt«. Radom war ein Zentrum des polnischen Widerstands. Im Dezember 1939 und Januar 1940 wurde der Judenrat eingerichtet. Im Sommer 1940 wurden 1.000 Männer in Arbeitslager geschickt. Im März 1941 wurde das Ghetto eingerichtet. Eine Woche zuvor war die jüdische Polizei gegründet worden, um bei den »Umsiedlungen« zu helfen. Am 7. April 1941 wurde das Ghetto mit einer Mauer bzw. mit einem Zaun geschlossen. Juden aus dem Umland und aus anderen Städten wurden nach Radom verschleppt. Etliche davon aus Krakau, da Krakau nach dem Wunsch von Generalgouverneur Hans Frank die rassisch reinste Stadt des Generalgouvernements werden sollte, um als deutsche Hauptstadt zu dienen. Ungefähr 27.000 Juden befanden sich im Hauptghetto und rund 5.000 Juden in einem kleineren Ghetto, das ein Außenlager des KZ Majdanek war. Die Verhältnisse waren katastrophal. Brot war auf 100 Gramm pro Tag und Person rationiert. Viele Menschen verhungerten. Anfang 1942 kam es zu mehreren Aktionen gegen Juden, bei denen verschiedene jüdische Führungskräfte exekutiert wurden.

Abbildung 1: Warnschild, Eingang Ghetto Radom, 1941.

Im Rahmen der »Operation Reinhardt« begann die Liquidierung des Ghettos im August 1942. Die Juden wurden vor allem nach Treblinka und Auschwitz deportiert. Die Reste des Ghettos wurden vorübergehend in ein Arbeitslager umgewandelt. Ende August 1942 befanden sich dort noch ungefähr 2.000 Juden. Die Häftlinge wurden am 26. Juni 1944 auf einen sog. Todesmarsch nach Tomaszow-Mazowiecki geschickt (ca. 110 km in vier Tagen), bei dem viele umkamen. Von dort wurden sie in Viehwaggons über Auschwitz nach Vaihingen an der Enz deportiert, wo sie bis Herbst 1944 eine unterirdische Flugzeughalle bauen sollten. Über Zwischenstationen wurden die Überlebenden schließlich ins KZ Dachau gebracht.

Nur wenige Hundert Juden aus Radom überlebten den Krieg.

Das Schicksal von Chaja Riwa, Awraham Jizchak und den anderen Radomer Verwandten ist nicht bekannt. Wenn sie nicht bereits im Ghetto, bei der Liquidierung oder Deportation umgekommen sind, dann im KZ Treblinka oder im KZ Auschwitz. Awraham Jizchak wurde 12/13 Jahre alt, Chaja Riwa 10/11 Jahre.

Zu Radom:
http://www.deathcamps.org/occupation/radom%20ghetto.html (03.01.2020).
https://de.wikipedia.org/wiki/Radom (23.06.2019).
https://de.wikipedia.org/wiki/Ghetto_Radom (07.01.2019).
http://www.holocaustresearchproject.org/ghettos/radom.html (10.02.2019).
https://en.wikipedia.org/wiki/Radom_Ghetto (10.02.2019).

9.2 Opatow

Sara, geborene Huberman, die Schwester von Mordechais Mutter, hatte nach Opatow geheiratet. Sara (Surale) (1890 – 1942) und Zalman Grojsbaum (1885 – 1942) hatten mehrere Kinder. Zalman hatte ein Unternehmen für Bürsten. Chaim Leibisch wurde bei der Familie aufgenommen. Sie wurden vermutlich im KZ Treblinka ermordet.

In der Kleinstadt Opatow lebten vor dem Krieg ca. 5.500 Juden (2/3 der Bevölkerung). Es gab zwei jüdische Banken, ein Krankenhaus, Wohlfahrtseinrichtungen, mehrere Tora- und Talmudschulen sowie liberale jüdische Schulen. Die meisten Juden waren in der Industrie oder im Kleingewerbe tätig (vor allem Kleidung, Nahrungsmittel und Ledergerberei). Die wenigen Juden, die in der Holzindustrie tätig waren oder Fabriken besaßen, waren wohlhabend. Es gab mehrere jüdische Organisationen: Agudath Israel, Zionisten- und Pionierparteien, Bund. Auf einem Bauernhof bei Opatow befand sich ein Trainingslager für das Leben in Erez Israel mit 80 bis 90 Mitgliedern. 1936 verübten Polen ein Pogrom gegen jüdische Ladenbesitzer und deren Familien, bei dem 30 Juden verletzt wurden.
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs flohen viele junge Juden in den sowjetisch kontrollierten Teil Polens. Als die Deutschen Opatow besetzten, zündeten sie die Häuser am Marktplatz an, in denen vor allem Juden lebten. Am folgenden Tag wurden zwischen 1.000 und 1.500 Bewohner der Stadt zwei Tage ohne Essen und Trinken im Kino der Stadt eingesperrt. Dabei wurden die jüdischen von den christlichen Polen getrennt und misshandelt. Anfang 1940 wurde ein Judenrat eingesetzt, der Juden freikaufen musste, die zuvor von den Deutschen willkürlich gefangen genommen worden waren. Im April 1941 wurde das Ghetto eingerichtet, das zunächst weder von einer Mauer noch von einem Zaun umschlossen war. Die Geschäfte im Ghetto waren geöffnet, aber Nahrungsmittel reduziert und Essensmarken eingeführt. Auch die Juden aus den umliegenden Dörfern mussten ins Ghetto von Opatow. Hinzu kamen Juden aus Warschau, Lodz und Wien. Der Judenrat richtete eine Bürstenfabrik und eine Schule ein. Er musste den Deutschen täglich 50 bis 60 Arbeitskräfte zur Verfügung stellen. Hunderte Juden wurden zur Zwangsarbeit in verschiedene Arbeitslager gebracht.
Die starke Überbevölkerung führte zu ständig steigenden Todeszahlen (v.a. wegen Typhus). Am 13. Mai 1942 wurde das Ghetto mit einem Zaun oder einer Mauer geschlossen. Am 20. Oktober 1942 begann um 4 Uhr die Räumung im Rahmen der »Aktion Reinhardt«. Etwa 7.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder wurden im Stadtzentrum versammelt, wo sie mehrere Stunden stehen mussten. Ältere und kranke Menschen wurden erschossen. Ungefähr 2.000 Juden aus dem Ghetto blieben in Opatow, um für die Oemler GmbH zu arbeiten. Alle anderen mussten in Fünferreihen 18 km weit zum Bahnhof nach Jasice marschieren. Auf dem Fußmarsch nach Jasice wurden viele erschossen. Am Bahnhof wurden jeweils ca. 120 Menschen in einen Waggon gepresst, in dem sich ein Eimer als Latrine befand. Die Deportation ins 300 km entfernte KZ Treblinka dauerte drei Tage. Während dieser Zeit gab es weder Essen noch Trinken. Wer die Fahrt überlebte, starb bald nach der Ankunft in den Gaskammern.

Aus dem Opatow-Zug ist nur ein Überlebender bekannt: Samuel Willenberg, damals 19 Jahre alt. Er wurde von der SS für das jüdische Sonderkommando bestimmt. 1943 beteiligte er sich an dem Aufstand in Treblinka, bei dem ihm gemeinsam mit anderen Häftlingen die Flucht gelungen ist.

Am 16. Januar 1945 nahm die Rote Armee Opatow ein. Nur 300 jüdische Überlebende aus Opatow sind bekannt, die zum Teil von christlichen Polen versteckt worden waren.

Das Schicksal von Chaim Leibisch ist nicht bekannt. Wahrscheinlich starb er 1942 im Alter von 17 Jahren im Ghetto, bei der Liquidierung des Ghettos, bei der Deportation oder im KZ Treblinka – gemeinsam mit seinen Verwandten.

Es konnte nicht endgültig geklärt werden, ob Sara und Zalman Grojsbaum tatsächlich in diesem Opatow gewohnt haben, das immerhin mehr als 80 km von Radom entfernt liegt. Entsprechend der Schilderungen von Mordechai Papirblat müsste es sich vielmehr um ein Opatow in der Nähe von Radom handeln.

Zu Opatow:
https://en.wikipedia.org/wiki/Opat%C3%B3w_Ghetto (10.02.2019).
https://www.holocausthistoricalsociety.org.uk/contents/ghettosj-r/opatow.html (10.02.2019).

9.3 Zwolen

Zwolen ist die Heimatstadt von Mordechais Vater und dessen Familie. Auf dem jüdischen Friedhof hat Mordechai seine Mutter beerdigt.

Seit dem 16. Jahrhundert lebten Juden in Zwolen. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren es ca. 3.000, was der Hälfte der Bevölkerung entsprach. Von Beruf waren sie überwiegend einfache Handwerker und Ladenbesitzer. Im Krieg wurde Zwolen zu fast 80 % zerstört. Bei der Einnahme der Stadt durch deutsche Soldaten verbrannten diese eine Gruppe von Juden lebend in einer Scheune. Die Synagoge wurde komplett zerstört, den Juden wurde der Besitz abgenommen und sie wurden zur Zwangsarbeit verpflichtet.
Anfang 1941 wurde ein Ghetto eingerichtet, in dem 6.000 bis 7.000 Juden aus Zwolen und aus den umliegenden Dörfern zusammengeführt wurden. Wegen der starken Zerstörung Zwolens wurde das Ghetto nicht abgeschlossen. Wer es jedoch verließ, wurde gefangen oder erschossen. 1942 wurden junge Männer und Frauen in ein Arbeitslager zur Produktion von Munition verpflichtet. Am 29. September 1942 wurde das Ghetto aufgelöst. Die Juden mussten zum Bahnhof ins 15 km entfernte Garbatka marschieren. Von dort wurden sie ins KZ Treblinka deportiert. Bei der Liquidierung des Ghettos und auf dem Marsch wurden etwa 200 Juden umgebracht. Viele Alte und Kranke wurden beim jüdischen Friedhof exekutiert. Rund 100 Juden wurden zurückgelassen, um den Ghettobereich »aufzuräumen«. Sie kamen anschließend in ein Arbeitslager. 1944 zerstörten SS-Männer den jüdischen Friedhof und die Spuren der dortigen Massenexekutionen.

Fotos siehe http://www.deathcamps.org/occupation/zwolen_de.html (03.01.2019).

Zu Zwolen:
http://www.holocaustresearchproject.org/ghettos/zwolen.html (10.02.2019).
https://de.wikipedia.org/wiki/Ghetto_Zwole%C5%84 (07.01.2019).
http://www.deathcamps.org/occupation/zwolen_de.html (03.01.2019).

Autor: Thorsten Trautwein, 06.06.2020