Um die Mittagszeit des 16. Januar sichteten sie einen britischen Zerstörer, der direkt auf die Enzo Sereni zusteuerte. Es war die HMS Talybont. Der Kapitän der Enzo Sereni wurde aufgefordert, die Maschinen zu stoppen, damit eine Personenkontrolle erfolgen könnte. So geschah es. Wenig später kamen ein Offizier der Royal Navy und ein paar britische Soldaten an Bord und verlangten nach den Papieren der Passagiere. Doch der Kapitän hatte keine Papiere mehr. Er hatte die Anweisung, die Papiere mitsamt dem Funkgerät und dem Code für die verschlüsselten Funksprüche über Bord zu werfen, falls sie von einem Schiff der Royal Navy aufgebracht würden. So hatte er es getan. Bei dieser Aktion wurden allerdings auch die Koffer, in denen sich die persönlichen Bilder und Dokumente der Passagiere befanden, über Bord geworfen. Das war ein sehr schmerzhafter Verlust für die Passagiere, die erst später davon erfuhren!
Der Kapitän behauptete gegenüber dem britischen Offizier, sie wären ein panamaisches Schiff in internationalen Gewässern. Die Briten hätten darum kein Recht, sie anzuhalten. Da die Hoheitsgewässer nur 12 Seemeilen weit auf See reichten, war der Kapitän im Recht, da sie sich noch 40 Seemeilen entfernt von der Küste Palästinas befanden. Geistesgegenwärtig verlangte der Kapitän der Enzo Sereni vom britischen Offizier eine Bestätigung mit Unterschrift, dass er das Schiff 40 Meilen entfernt vom Land, also in internationalen Gewässern, aufgebracht hatte. Der Offizier unterschrieb das Papier und gab trotzdem die Anweisung, dass die Enzo Sereni dem Zerstörer in die Bucht von Haifa folgen sollte. Daraufhin gingen die britischen Soldaten von Bord und die Enzo Sereni folgte dem Zerstörer in Richtung Haifa.
Auf der Weiterfahrt nach Haifa wurde die blauweiße Flagge der zionistischen Bewegung gehisst und die Passagiere sangen die Hatikwa (deutsch »die Hoffnung«), die Hymne der zionistischen Bewegung (s.u.). Anschließend hielt der katholische Kapitän Mezzano eine bewegende Rede über die Geschehnisse und darüber, wie es nun weitergehen würde. In dieser Rede sagte er unter anderem: »Während wir von britischen Soldaten gefangen sind, erkläre ich, dass ich keine Angst vor Bestrafung habe. Auch danach werde ich weiterhin Juden nach Israel, in ihre Heimat bringen. Es ist nicht das erste Mal, dass Juden nach Israel gebracht werden und ich bin stolz darauf, dass ich die Möglichkeit habe, Juden nach Israel in ihre Heimat zu bringen. Kein Gesetz und keine Drohung von Bestrafung wird mich davon abhalten, diese historische Rolle auszuführen.«1
Nach der Rede brach allerdings unter manchen Passagieren eine gewisse Panik aus. Ein paar Männer drangen sogar in die Lagerräume ein und versorgten sich unerlaubt mit zusätzlichem Essen.
Gegen 22 Uhr erreichten sie die Bucht von Haifa. Das Schiff musste außerhalb des Hafens vor Anker gehen, sodass die Entfernung für eine heimliche Flucht der Passagiere bei Nacht zu groß war. Für die jüdischen Neueinwanderer ergab sich an Bord ein unvergesslicher Anblick. Zum ersten Mal in ihrem Leben sahen sie Erez Israel mit ihren eigenen Augen. Vor ihnen lag die Bucht von Haifa, hinter der sich der Karmel erhob. Die Lichter, die sie an der Küste und den Bergrücken entlang sahen, kamen ihnen vor wie Tausende Fackeln von Engeln, die ihnen zuwinkten. Alle Gefühle flossen ineinander: die Anspannung der zurückliegenden Tage, Rührung und Freude. Sie fühlten sich eins mit dem jüdischen Volk, das nach einer zweitausendjährigen Zeit im Exil zurück ins Land der Verheißung kam. Wer Verwandte in Palästina hatte, hoffte darauf, dass er schon bald mit ihnen vereint sein würde. Sie konnten sich von diesem Anblick kaum trennen, doch wollten auch die anderen, die noch im Bauch des Schiffes waren, an Deck und selbst sehen, wovon die anderen berichteten.
Hinter den Männern, Frauen und Kindern lag ein langer Weg aus ihrer ursprünglichen Heimat, in der sie Diskriminierung und Verfolgung erlitten hatten. Hinzu kam die sehr beschwerliche Überfahrt aus Italien. Nun hatten sie das Ziel ihrer Reise, ihrer Sehnsucht vor sich. Sie sahen es mit ihren eigenen Augen und durften es doch nicht betreten. Sie waren Gefangene der Briten. Wieder die bange Frage: Wie wird es weitergehen?2
In der Nacht kamen ein Vertreter der Jewish Agency, der für Einwanderer zuständig war, und ein Vertreter des Arbeiterrats von Haifa an Bord. Sie hatten mit den Briten verhandelt und teilten den Passagieren das Ergebnis mit. Am nächsten Morgen dürften alle das Schiff verlassen. Vom Hafen würden sie in ein Sammellager nach Atlit gebracht. Dann würde man sehen, wie es weiterginge. Das gute an dieser Nachricht war, dass sie von Bord durften!
Mordechai verbrachte die Nacht in einer Hängematte im Bauch der Enzo Sereni, umgeben von zwei britischen Zerstörern und der Küstenwache. Die Luft war furchtbar und etliche schnarchten. Er konnte es kaum fassen. Vor genau einem Jahr war er noch im Arbeitslager Neu-Dachs, das bei einem Luftangriff getroffen worden war. Am nächsten Tag, am 17. Januar 1945, hatte der Todesmarsch in Richtung Westen begonnen. Es war ein Wunder, dass er alles überlebt hatte und sich nun genau ein Jahr später an der Küste von Erez Israel befand. Doch wieder einmal war der nächste Tag ungewiss. Er fragte sich, ob sie an Land gehen könnten. Ob sie freikommen würden? Ob er seine Verwandten treffen würde? Irgendwann schlief er ein.
Zalman Perach, der immer wieder Holocaust-Überlebende illegal nach Palästina gebracht hat, beschrieb die Besonderheit der Holocaust-Überlebenden als Passagiere folgendermaßen: »Die meisten der Holocaust-Überlebenden sagten sehr wenig. Sie befanden sich nach Kriegsende in einer ungewöhnlichen Situation und ihre Reaktion war Zugvögeln vergleichbar. Sie sammelten sich und bewegten sich in die gleiche Richtung. Sie hatten keine Wahl; sie überquerten Grenzen und fanden unterwegs Futter. Auf eine geheimnisvolle, instinktive Art und Weise wurden sie zu ihrem Ziel gezogen. Nichts hielt sie auf. Unsere Aufgabe war es lediglich, ihnen bei der Organisation zu helfen und ihnen hier und da einen Schubs zu geben. Niemand, der nicht selbst durch die ‚Hochschule des Lebens‘ in den Lagern gegangen war, wäre in der Lage gewesen, die Hindernisse zu meistern, mit denen sie konfrontiert waren. Wenn ich dieselbe Route mit 900 Israelis hätte gehen müssen, hätte ich es nicht geschafft. Die Überlebenden hatten das ‚Talent zum Überleben‘, den Widerstand und die Resilienz, die sie in den Lagern und Wäldern erworben hatten. Sie hatten einen Prozess der Selektion durchlaufen, der sie von gewöhnlichen Menschen unterschied.«3
Zum ganzen Kapitel:
Josef Zwi Halperin, Der Weg in die Freiheit 1945 – 1946, 1996 (Hebräisch).
Zalman Perach, This is the Way it Was, gesammelt und niedergeschrieben von Dita Perach, ohne Jahr, vgl. http://www.palyam.org/English/IS/Perach_Zalman.pdf (13.06.2020).
The Voyage of the »Enzo Sereni«, zusammengestellt von Tzvi Ben Tzur, ohne Jahr, vgl. http://www.palyam.org/English/Hahapala/hf/hf_Ancho.pdf (13.06.2020).
1Zitiert in: The Professor Arie Reich visits Selvino, 16.06.2017, https://www.sciesopoli.com/en/news/il-prof-arie-reich-visita-sciesopoli/nggallery/ (13.06.2020). Das Zitat stammt ursprünglich aus der Autobiografie von Yoel Reich, Thou Broughtest My Soul from the Nether-world, ohne Jahr und Seitenangabe.
2Abb. 1: Josef Zwi Halperin (?), aus: Josef Zwi Halperin, Der Weg in die Freiheit 1945 – 1946, 1996, Bild Nr. 59, ohne Seitenzahl (Hebräisch); Scan bearbeitet von Timo Roller, 2020.
3Zalman Perach, This is the Way it Was, gesammelt und niedergeschrieben von Dita Perach, ohne Jahr, S. 8, vgl. http://www.palyam.org/English/IS/Perach_Zalman.pdf (13.06.2020); Übersetzung: Thorsten Trautwein.
Autor: Thorsten Trautwein, 04.08.2020