Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

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»Antisemitismus heute« – Kongressthema und zugleich aktuelle Diagnose

29. September 2023

»Israelische Armee greift den vierten Tag in Folge Hamas-Posten an« – solche Schlagzeilen gibt es immer wieder in den sogenannten seriösen Medien, so auch am Montag auf »Zeit Online«. Erst in der Beschreibung erfährt man, dass dieser Angriff Israels eine Reaktion war auf »Ausschreitungen« an der Grenze zwischen dem Gaza-Streifen und Israel seit zwei Wochen sowie von »Schüssen auf Soldaten«. Wäre so eine Überschrift die Ausnahme, könnte man über die einseitige Formulierung hinwegsehen, aber es ist sehr regelmäßig zu beobachten, dass durch die Anordnung von Informationen in manchen Medien oft der Eindruck entsteht, Israel sei im Nahostkonflikt der Aggressor.

In der Nacht auf Dienstag beschmierte offensichtlich ein 12-Jähriger an der Herrenberger Jerg-Ratgeb-Schule ausgestellte Porträts von Holocaust-Überlebenden des Fotokünstlers Luigi Toscano mit Hakenkreuzen und »Hitlerbärtchen« – Vandalismus, ein Dummer-Jungenstreich oder bewusster Antisemitismus? Der SWR berichtete, die Ermittlungen dauern an.

Parallel zu diesen Ereignissen, von Sonntag bis Dienstag, waren wir mit einem Papierblatt-Team auf dem Kongress »Antisemitismus heute« im Schönblick-Gästezentrum in Schwäbisch Gmünd und stellten unsere Arbeit vor. Frank Clesle und Alexander Cyris kamen im Namen von Zedakah und dem IP-Zentrum in Maisenbach, Gabriel Stängle als Experte für unsere Regionalgeschichte und Bildungsthemen, Timo Roller als Vertreter von MORIJA, dazu war zeitweise Bernt Mörl von Aseba dabei, einem christlichen Medienwerk, das Papierblatt seit Jahren unterstützt und sich für die Produktion des Films #schalom75 verantwortlich zeichnet. Neben einem Ausstellungsstand, Networking und Gesprächen hielten wir insgesamt drei Seminare und Gabriel Stängle nahm abends an einer Podiumsdiskussion teil zum Thema: »Wie können Pädagogen agieren, um dem Antisemitismus präventiv zu begegnen?«

Fotos: Der Antisemitismus-Kongress mit namhaften Referenten wie (unten von rechts nach links) Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl, Bestseller-Autor Ahmad Mansour (mit Personenschutz!) sowie dem baden-württembergischen Antisemitismus-Beauftragten Michael Blume. Mit auf dem Podium: Gabriel Stängle (oben, 2.v.l.) vom Papierblatt-Team.

Antisemtismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem – dies war eine der wichtigsten Erkenntnisse der Veranstaltung, von unterschiedlichen Referenten wurde das betont. Es gibt Judenhass unter Extremisten auf rechter und linker Seite, unter Islamisten, in Parteien und Klimaschutzbewegungen. Der Staat Israel wird von der UNO öfter verurteilt als alle anderen Staaten zusammen, die EU und die deutsche Regierung haben immer wieder Nachsicht mit Aussagen palästinensischer Vertreter, die den Holocaust relativieren. In den Medien erfüllt die manchmal obsessive Israelkritik eindeutig Kriterien von Antisemitismus: die Dämonisierung Israels sowie das Anlegen anderer Maßstäbe als an andere Länder.

Ein Fazit des Kongresses: Der Kampf gegen Antisemitismus erscheint nahezu aussichtslos, gemeinsame Kraftanstrengungen in der Bildungspolitik, in den sozialen Medien und im persönlichen Umfeld sind dringend notwendig.

Unser Anteil an dieser schwierigen gesellschaftlichen Aufgabe soll weiterhin sein, Zeitzeugen-Interviews bereitzustellen und sie zusammen mit Unterrichtsmaterialien als konkrete Hilfen für Lehrer anzubieten, ergänzt durch Bücher der »Edition Papierblatt«, die den Lesern ein breites Spektrum an Themen eröffnen: jüdische Schicksale, die reichhaltigen jüdischen Einflüssen auf unsere regionale Kultur aufzeigen sowie auch spannende Einzeldarstellungen wie die Kabbalistische Lehr- bzw. Lerntafel oder das jüdische Leben speziell in Pforzheim. Die Zahl der Zeitzeugen-Videos hat sich inzwischen auf 45 erhöht, erst Anfang September haben wir Amos Fröhlich interviewt, der Teil war einer Gruppe von Auswanderern aus Südwestdeutschland, die in Israel kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs den Kibbuz Shavei Zion gegründet haben.

Trotz der fortwährenden Ablehung und offenem Hass gegenüber dem Staat und Volk Israel, die in unserem Land zu beobachten ist: Wir machen weiter! Und wir sind nicht allein, das war die ermutigende Botschaft des Kongresses.

Technische Neuerungen

Die Umstellung auf HD-Versionen ist inzwischen fast vollständig abgeschlossen. Alle bisherigen Zeitzeugen-Berichte sind nun auf unserem YouTube Kanal »Papierblatt« eingebunden und auch auf unserer Homepage über die Suchfunktion verwendbar. Erfreulicherweise hat sich die Reichweite unseres Kanals in letzter Zeit sehr vergrößert, dies scheint daran zu liegen, dass YouTube unsere Videos vermehrt weiterempfiehlt.

Das Buch »Jüdisches Leben im Nordschwarzwald« ist mittlerweile komplett digital verfügbar, die einzelnen Kapitel können auf der Übersichtsseite heruntergeladen werden.

Wertvolle Besuche in Israel

Mit einer kleinen Gruppe waren wir in Tel Aviv am Grab von Mordechai Papirblat – an seinem 100. Geburtstag am 25. April 2023. Leider ist er im Dezember 2022 im Alter von 99 Jahren verstorben. Es hat uns sehr gefreut, dass sein Enkel Lior Papirblat sich die Zeit genommen hat, uns die Grabstätte auf dem Friedhof Kiryat Shaul zu zeigen. Auch das Grab von Mordechais Frau Sima, die 2012 verstorben ist, haben wir besucht.

Während unserer Israelreise Ende April trafen wir uns auch mit Ada Waits, der Tochter der Künstlerin Ella Liebermann-Shiber, und ihrem Mann Jacob. Beide haben wir letztes Jahr in Deutschland bei Zedakah kennengelernt. Es war ein herzliches Wiedersehen in Ramat Yishay in der Jesreel-Ebene.

Mordechai Papirblat und Ella Liebermann-Shiber werden im neuen Film »#schalom75 – Gottes einzigartige Treue« vorgestellt (produziert von Aseba Deutschland in Zusammenarbeit mit MORIJA). Dieser Teil ist auch in der Kurzversion (17 Minuten) von #schalom75 zu sehen, die soeben auf YouTube freigeschaltet wurde.

Gegen das Vergessen – für die Zukunft!

Am 27. Januar ist Holocaust-Gedenktag. Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Seit Jahren organisieren die Papierblatt-Partner Veranstaltungen zu diesem Anlass. Dieses Jahr lud der Landkreis Calw ins Landratsamt ein, bereits am 26. Januar, weil der 27. ein Freitag ist und der Shabbat-Abend für unsere jüdischen Mitwirkenden und Gäste ungeeignet ist.

Ivan Lefkovits kam aus Basel, um im Gespräch mit Schuldekan Thorsten Trautwein von seinem Schicksal zu erzählen. Er war sieben Jahre alt, als er mit seiner Familie ins KZ Ravensbrück deportiert wurde. Mit seiner Mutter wurde er dann ins KZ Bergen-Belsen gebracht. Beide überlebten, der Rest der Familie Lefkovitz wurde ermordet.

Nach einem Studium in Prag arbeitete Ivan Lefkovits als Immunologe in Basel. Bis zu seinem Ruhestand hatte der heute 86-Jährige darüber hinaus mehrere Professuren an renommierten Universitäten.

Zu Beginn der Veranstaltung begrüßten Landrat Helmut Riegger sowie Susanne Benizri-Wede, Erziehungsreferentin bei der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden, die Zuschauer im vollbesetzten Saal. Anna Pajdakovic und Jonas Dehmel erzählten von ihrem lehrreichen und bewegenden Besuch in Auschwitz im Rahmen einer vom Landkreis initiierten Jugendbegegnung in Polen.

Mit einer Psalmlesung, der Entzündung von Kerzen und einer Gedenkminute wurde zum Abschluss der Veranstaltung an die Opfer des Holocaust gedacht.

Die Veranstaltung wurde gestreamt, der Livestream ist auf dem YouTube-Kanal des Landkreises Calw weiterhin abrufbar. Das Interview mit Ivan Lefkovits wurde für Papierblatt aufgenommen und wird bald unter der Rubrik »Zeitzeugen« verfügbar sein.

Mordechai Papirblat, 1923–2022

In der Nacht auf den 27. Dezember 2022 ist Mordechai Papirblat im Alter von 99 Jahren verstorben.

Im Jahr 2013 hat er im Gästehaus von ZEDAKAH in Shavei Zion einen Vortrag über sein Schicksal während des Holocaust gehalten. Die Aufnahme des sehr bewegenden und aufrüttelnden Zeitzeugenberichts war einer der ersten Beiträge auf www.papierblatt.de. Unsere Unterrichtsplattform hat 2016 seinen Namen bekommen. Zunächst klang das etwas ungewöhnlich – aber es hat sich herausgestellt, dass es keinen besseren Namen geben konnte!

Mordechai hat unsere Aufmerksamkeit ganz besonders auf sich gezogen. Nachdem er 2015 bei Schuleinsätzen in Deutschland noch einmal aus seinem Leben erzählt hat, besuchten wir – Thorsten Trautwein und Timo Roller – ihn 2019 zuhause in Israel (Foto). Er war ein sehr liebevoller und humorvoller Mensch mit einem riesigen Erinnerungsschatz, den er gerne mit uns teilte.

Inzwischen liegt seine tagebuchartige Erzählung »900 Tage in Auschwitz« in deutscher Übersetzung im MORIJA-Verlag vor, Thorsten Trautwein hat eine umfangreiche Biografie verfasst, die auf www.papierblatt.de abrufbar ist und die Mordechais Leben von der Geburt in der polnischen Stadt Radom im Jahr 1923 bis zu seinem 97. Geburtstag im April 2020 in Tel Aviv umfasst und zahlreiche Hintergrundinformationen enthält.

Mordechai Papirblat sagte von sich selbst: »Mein Name ist ein Denkmal« – nur er selbst hat als Träger dieses Namens überlebt, seine ganze Verwandtschaft wurde in den KZs ausgelöscht. Mordechai Papirblat ist wahrlich ein Denkmal. Sein Leben, seine Menschlichkeit, Freundlichkeit und sein Humor bedeuten uns sehr viel. Sein erschütterndes Tagebuch und seine Vorträge lassen uns das furchtbare Leid erahnen, das er erfahren musste. Und dennoch hatte er eine enorm positive Lebenseinstellung.

Es ist uns eine Ehre und eine Freude, ihn gekannt zu haben. Und es ist uns ein Vorrecht und eine Verpflichtung, seine Geschichte und Menschenfreundlichkeit weiterzutragen. Die Freundschaft mit ihm und seiner Familie war und bleibt sehr wertvoll. Den Papirblats dreier nachfolgender Generationen wünschen wir viel Kraft und Gottes Beistand in der Zeit des Abschieds und der Trauer.

Möge seine Erinnerung ein Segen sein.

Das Papierblatt-Team
Thorsten Trautwein, Frank Clesle und Timo Roller

Erinnerungen aus dunkler Vergangenheit

Konzept einer interaktiven Wanderausstellung

Bei der Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht am 9. November 2022 in Maisenbach stellten wir unser Konzept einer Wanderausstellung über das Leben und Werk von Ella Liebermann-Shiber vor. Die Künstlerin hat den Holocaust gezeichnet. Und ihr Leben war vom Holocaust gezeichnet. »Holocaust gezeichnet« – so soll deshalb der Untertitel der Wanderausstellung »Erinnerungen aus dunkler Vergangenheit« lauten, die das Hilfswerk »Zedakah« gemeinsam mit Schuldekan Thorsten Trautwein aus Calw, Schwester Anne Rentschler vom Diakonissenmutterhaus Aidlingen sowie dem Grafiker Samuel Pross konzipiert.

Papierblatt: Holocaust-Überlebende berichten

Zeitzeugenarchiv mit Unterrichtsentwürfen und Video-Suchfunktion

Hinter den Kulissen …

In den letzten Monaten haben wir viele Dinge hinter den Kulissen aufgearbeitet: HD-Versionen der Videos ausgespielt, einen YouTube-Kanal vorbereitet, die Einbindung dieser hochauflösenden Versionen in unsere durchsuchbare Plattform vorbereitet. Die Umstellung wird nun innerhalb der nächsten Wochen schrittweise vorgenommen. Gerne können Sie auch unseren YouTube-Kanal abonnieren, um auf diese Weise über neue HD-Versionen und neue Produktionen informiert zu werden: YouTube Kanal »Papierblatt«.

Herzlich einladen möchten wir Sie zu den Veranstaltungen:

Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November in Maisenbach.

Sowie Eindrücken und Impulse mit Anatoli Uschomirski am Buß- und Bettag: Wer und was sind messianische Juden? Ein neutestamentlicher Text – jüdisch interpretiert – und „… und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ (Matthäus 6,12).

Holocaustgedenktag – Erinnerungen aus dunkler Vergangenheit

27. Januar 2022 um 19:30 Uhr als Hybridveranstaltung

Ich habe versucht,
durch meine Zeichnungen das auszudrücken,
was meine Welt so dunkel machte.

Die Holocaustüberlebende Ella Liebermann-Shiber dokumentiert nach ihrer Befreiung mit eindrücklichen Bleistiftzeichnungen, was sie als Mädchen zuerst im Ghetto, dann in Auschwitz und auf dem Todesmarsch erlebt hat. Ihre Tochter Ada Waits ist live zugeschaltet im iP-Zentrum in Maisenbach-Zainen und erzählt anhand der Zeichnungen von den erschütternden Erlebnissen ihrer Mutter. Das Werk von Ella Liebermann-Shiber ist pünktlich zum Holocaustgedenktag nun auch in Buchform erscheinen. Herzlich willkommen!

Veranstalter sind die Stadt Bad Liebenzell, der Schuldekan der evangelischen Kirchenbezirke Calw-Nagold und Neuenbürg sowie Zedakah e.V.
Der Flyer zum Download bietet weitere Informationen.

Das Buch kann im J. S. Klotz Verlagshaus Onlineshop versandkostenfrei erworben werden.

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