Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Tomi Breuer

Vortrag am 28. Januar 2019 in Wildberg, Deutschland

Tomi Breuer kam im März 1942 im ungarischen Debrecen zur Welt. Bereits die Umstände seiner Geburt waren durch die deutsche Besatzung gekennzeichnet. Seinen Vater lernte er nie kennen. Als Zweijähriger sollte er zusammen mit anderen arbeitsunfähigen Menschen nach Auschwitz transportiert werden. Doch der Irrtum eines Bahnangestellten führte ihn nach Wien ins Ghetto, wo Breuer zusammen mit seiner Mutter und deren Eltern den Holocaust überlebte. Aber auch im kommunistischen Ungarn war sein Leben mehrmals bedroht, so dass er als 14Jähriger nach Israel floh.

Das am Ende des Vortrags gespielte Lied ist im Original auf Youtube zu finden. Tomi Breuer hat anlässlich des Holocaust-Gedenktags auch bei einer Veranstaltung in Bad Liebenzell von seinem Schicksal erzählt. Davon gibt es eine weitere Aufnahme.

Kurzbiografie

Thomas – genannt Tomi – Breuer kam am 22. März 1942 im ungarischen Debrecen zur Welt. Sein Vater wurde von SS und Pfeilkreuzlern schon vor seiner Geburt verhaftet. Er selbst wurde als Zweijähriger zusammen mit seiner Mutter deportiert. Durch einen Zahlendreher landeten sie aber nicht im Vernichtungslager Auschwitz, sondern im österreichischen Durchgangslager Strasshof und überleben dort den Holocaust zusammen mit den Eltern seiner Mutter. Nach dem Krieg kehrte die Familie in ihre Heimatstadt zurück. Doch der Antisemitismus war tief in der ungarischen Gesellschaft verwurzelt und Übergriffe waren keine Seltenheit. Als Tomi Breuers Name während des Aufstandes 1956 erneut auf einer Todesliste erschien, floh er über Österreich und Italien nach Israel, wohin bereits 1950 seine Großeltern ausgewandert waren. Er machte eine Ausbildung zum Lehrer und unterrichtete mit Begeisterung auch über seinen Ruhestand hinaus.

Inhaltsübersicht

00:00 - 05:30

Begrüßung und Vorstellung

Zunächst bittet Tomi Breuer um Entschuldigung, dass er Hebräisch spricht.

Ich heiße Tomi Breuer, bin 77 Jahre alt, geboren am 22. März 1942 in Ungarn. Ich wohne in Israel in der Stadt Netanya und bin Pensionär. Ich war stellv. Rektor einer Schule, die 1800 Schüler hatte.

Es ist schwer für ihn, seine Geschichte zu erzählen, denn dann kommt alles wieder zurück. Als Lehrer ist er es gewohnt, vor Schülern zu sprechen. Er wünscht sich, dass man sich gegenseitig kennen lernt. »Ich wünsche mir ein anderes Deutschland«. Der Austausch ist wichtig und er betont, dass er die letzte Generation der Holocaust-Überlebenden ist, die ihre Geschichte noch weitergeben kann. Er selbst hat als 2-Jähriger den Holocaust überlebt. »Ich möchte gerne bis 120 leben, aber danach wird es nur noch Filme und Bücher geben. Es ist ein besonderes Recht, nicht (nur) den Menschen Tomi Breuer vor euch zu sehen, sondern einen Menschen, der den Holocaust überlebt hat«. Es ist ihm wichtig, den jungen Menschen seine Geschichte weiterzugeben, weil sie die Zukunft sind. Er will ihnen das Anliegen weitergeben, gegen Antisemitismus und die Leugner des Holocaust zu kämpfen.

»6 Millionen Augenpaare und 1,5 Millionen Augenpaare von Kindern schauen von oben auf uns – und ich bin ihr Mund«.

05:30 - 11:28

Die Situation in Ungarn im Jahr seiner Geburt

Weil er in Ungarn geboren ist, zeigt er anhand von Bildern, was in Ungarn gerade passiert: die Arme werden zum Hitlergruß erhoben, ein Nachtclub, der Hitler heißt, Hakenkreuze als Tätowierung, Menschen als Hitler verkleidet und das Verbrennen der israelischen Flagge im ungarischen Parlament. »Dagegen kämpfe ich!«

Er wurde am 22. März 1942 in der ungarischen Stadt Debrecen, der zweitgrößten Stadt Ungarns, in einem Krankenhaus, das zu der Zeit unter der Herrschaft der Nazis und der ungarischen Pfeilkreuzlern, die Verbündete der Deutschen waren, stand, geboren.

Die Geburt war für meine Mutter nicht leicht. Man hat sie gefoltert, so dass man die Spuren noch gesehen hat, als sie mit 94 Jahren vor acht Jahren (2011) starb. »Auch ich habe eine Behinderung von dieser Geburt zurückbehalten. Vom Kreißsaal kam ich ins Kinderzimmer. Dort wurde ich in die dunkelste Ecke gestellt und über dem Bettchen hat man ein Schild mit dem Davidstern und dem Wort »Jude« angebracht. Auch entlassen wollte man meine Mutter und mich erst, als ein Lösegeld für uns bezahlt worden ist. Mein Vater war davor schon umgebracht worden, so dass es nur noch meine Mutter und meine Großeltern gab, und die konnten das Geld nicht aufbringen. Mithilfe der jüdischen Gemeinde haben sie das Geld irgendwie zusammengekratzt, so dass wir aus dem Krankenhaus entlassen werden konnten.« Ein Foto seines Vaters ist die einzige Erinnerung an ihn.

11:28 - 13:40

Das Unfassbare in Worte fassen

Nach der Befreiung, als er 5 Jahre alt war, wollte seine Mutter unbedingt ihre Geschichte erzählen. Sie gehörte zu den wenigen Überlebenden, die erzählen wollten. Die meisten sprachen überhaupt nicht über ihre Erlebnisse und haben ihre Geschichten mit ins Grab genommen. »Mein Problem war, dass ich es einfach nicht ertragen habe, wenn meine Mutter über die Demütigungen, die Schläge und die Folter, die ihr widerfahren sind, erzählen wollte. Sie hat dabei immer sehr geweint und ich konnte es nicht ertragen, meine Mutter so zu sehen. Wenn man mit Freunden oder Verwandten zusammen war kam es immer zu Gesprächen über den Holocaust – und ich habe immer eine Möglichkeit gefunden, den Raum zu verlassen. Aber meine Mutter war eine kluge Frau, so hat sie die Geschichte meiner Frau und meinen Kindern erzählt.« So kennt er seine Geschichte aus den Erzählungen seiner Frau, der Kindern und sogar der Enkeln.

13:40 - 14:40

Kollaboration von Ungarn und Deutschen

T. Breuer zeigt ein bild der Viehwaggons mit denen die jüdischen Menschen zur Deportation abgeholt wurden. »Hitlerdeutschland und die ungarische Regierung haben sehr gut, sehr erfolgreich zusammengearbeitet. Manchmal waren die Ungarn noch gewalttätiger als die SS.

14:40 - 15:47

Beginn der Ausgrenzung

Die Vernichtung der Juden fing an mit der Markierung durch den gelben Stern, den man vorne und hinten tragen musste. Der zweite Schritt war die Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben, d.h. die Schüler durften nicht mehr in die Schulen, die Studenten nicht mehr an die Universitäten, jüdischen Arbeitern wurde gekündigt und Christen durften keine jüdischen Plätze mehr betreten und andersherum. »Was haben die Kinder verbrochen, dass sie diesen Stern tragen müssen?«

15:47 - 20:08

Vertreibung und Ghetto

Den Opa nannte er Papa, weil er seinen Vater ja nicht kannte und der Opa ihn großgezogen hat. Der Opa hatte eine große Druckerei. Auch die wurde mit dem Davidstern markiert, so dass da niemand reingehen durfte. Danach kam die Vertreibung aus den Häusern. Alle wertvollen Dinge wie Schmuck, Teppiche, Gemälde u.a. mussten in den Häusern zurückgelassen werden. Es durfte Essen für 3 Tage mitgenommen werden. An einem festgesetzten Tag mussten dann alle Juden an einem bestimmten Ort erscheinen. Von dort wurden sie in Ghettos verteilt.

Im Ghetto war es sehr eng: kein Essen, kaum eine Möglichkeit eine Unterkunft zu finden, keine Beschäftigung – gar nichts. In Warschau sind so schon sehr viele Menschen im Ghetto gestorben. Zum großen Glück waren sie nur eineinhalb Monate im Ghetto. »In unserem Ghetto war es so, dass es verschiedene Quartiere gab. Eines für Schwangere, Frauen mit kleinen Kindern, Kranke, Behinderte und alte Menschen. Das war das kleine Ghetto, ins größere kamen die, die ungefähr 10 bis 40 Jahre alt waren, die arbeiten konnten. Das Essen für die 3 Tage war ziemlich schnell zu Ende.«

20:08 - 32:09

Deportation

»Dann kam ein neuer Befehl, dass wir das Ghetto verlassen und zum Bahnhof gehen sollten. Das war aber nicht der große Bahnhof von Debrecen für den zivilen Verkehr, sondern ein kleiner versteckter, wo niemand was gehört oder gesehen hat. Auch da wurden die Menschen wieder nach dem gleichen Muster getrennt, und wer versucht hat, von der einen Reihe in die andere zu kommen, der wurde gleich erschossen. Es gab eine sehr starke Zensur, so dass wir keine Ahnung hatten, was uns erwarten würde.«

»Vielleicht hätte es einen Aufstand gegeben, wenn wir gewusst hätten, in welche Richtung das ging.« Er zeigt Bilder eines Waggons, in den normal 4-5 Pferde oder Kühe reinpassen – hier wurden 100 und noch mehr Menschen reingestopft. Dann sind Bilder von Kindern und Jugendlichen zu sehen – u.a. ein Junge, der seinen kleinen Bruder auf dem Arm hält. Auf einem anderen Bild ist die Schlange mit Menschen (10 – 40 Jahre), die für´s Arbeitslager bestimmt waren, zu sehen. »Meine Mutter war jung, weshalb für das Arbeitslager bestimmt war.« Sie hielt ihn als Zweijährigen auf dem Arm. Aber sein Platz war eigentlich nicht auf ihrem Arm, sondern in dem Zug, der eigentlich nach Auschwitz fahren sollte. »Ein Offizier sah das und riss mich aus den Armen meiner Mutter. Er warf mich auf die andere Seite – zufällig in die Arme der Großeltern. Ich kann mich nicht selbst daran erinnern, aber als Großvater und Vater kann ich mir vorstellen, wie viele Tränen da vergossen worden sind. Meine Mutter blieb erst in der stark bewachten Reihe stehen. Und dann, obwohl es sie das Leben hätte kosten können, wechselte sie in die Reihe, wo ich war.«

»Wie wir da in den Waggons waren, das ist etwas, was mich bis heute beschäftigt. Ich war 2 Jahre und eingequetscht zwischen all den Erwachsenen. Ein Kind braucht Luft, es braucht Platz zum Spielen, zum Bewegen. Ich kann mir das nicht vorstellen. In dem Waggon gab es einen Eimer mit Trinkwasser und einen als Toilette. Die Fahrt war im Juni und dauerte 4 Tage. Es war heiß und die Züge fuhren nur nachts. Den ganzen Tag standen wir in der Hitze auf dem Abstellgleis: wir haben geschwitzt, wir haben gestunken, wir haben geweint. Unterwegs gab es immer wieder so Sammelplätze für Juden, wo wir hielten, wo dann noch mehr Juden in den Waggon reingeschoben wurden. Es fielen manchmal einfach Menschen aus dem Waggon, wenn die Tür geöffnet wurde – weil sie nicht mehr lebten. Auch an all diesen Sammelplätzen wurde getrennt zwischen denen, die noch arbeiten konnten, und den anderen. An einem Bahnhof stieg eine schwangere Frau zu – das war die Mutter meiner Frau. An der Hand hielt sie noch ein Mädchen von 1 ½ Jahren. Es war klar, dass das Ziel Auschwitz sein würde."

»Nach 4 Tagen kamen wir an die Grenze zu Österreich. Da stoppten wir, weil wir auf die Erlaubnis zur Weiterfahrt warten mussten. Für die war Adolf Eichmann zuständig. Er war für den Tod von 600.000 ungarischen Juden verantwortlich. Als es jetzt darum ging, die Genehmigung zu erteilen, war derjenige, der die Papiere vorbereiten sollte vielleicht betrunken oder es ist ihm sonst ein Fehler unterlaufen – jedenfalls hat er zwei Nummern vertauscht. Das bedeutete, dass die Gesunden, Jungen nach Auschwitz fuhren und wir ins Arbeitslager kamen. In Stuttgart wurde 1966 ein Dokument veröffentlicht, wo dieser Fehler geschildert wird.«

32:09 - 37:42

Leben im Lager Strasshof (Österreich)

»Die erste Station war Straßhof, eine Art Selektionslager. Dort wurden wir desinfiziert, man hat uns die Kleider ausgezogen, und die, die noch einigermaßen arbeiten konnten, wurden aussortiert – also auch mein Opa und meine Mutter. In jeder Baracke waren 1000 Leute untergebracht. Die Frage war, was macht man mit einem 2jährigen Kind in der Baracke, wenn die Mutter und der Opa arbeiten müssen?«

»Man sagt ja, dass 2jährige Kinder sich an nichts erinnern. Aber ich habe eine sehr traumatische Erfahrung aus dieser Zeit, die mich heute noch in den Albträumen verfolgt. Ein Wächter namens Flor hatte einen großen schwarzen Hund, und sein Hobby war – wenn die Eltern arbeiten mussten, dann sind die Kinder aus der Baracke ihnen nach – und da hat er den Hund auf sie gehetzt. Und diese Angst die hängt für immer in meinem Kopf fest.«

»Meine Mutter hat in der Landwirtschaft gearbeitet. Da konnte sie mir ab und zu was zum Essen mitbringen. Durch mangelnde Hygiene brach im Lager Typhus aus. Viele Kinder sind daran gestorben – auch ich wurde krank. Aber eine Freundin meiner Mutter, die Ärztin war, hat sich um mich gekümmert – so habe ich auch das überlebt. Die Erwachsenen haben wegen der Sache mit dem Hund beschlossen, dass jemand im Lager bei den Kindern bleiben sollte, der aufpasst. Aber wie sollten sie das machen? Unter den Gefangenen waren auch jüdische Ärzte, so dass die Gestapo-Leute sagten, sie sollten sich selbst um die Kranken kümmern. Dann haben sich von den gesunden Leuten einige eine Krankmeldung bei den Ärzten geholt und konnten so im Lager bleiben und auf die Kinder aufpassen.«

2 Scheiben Brot war die Tagesration im Lager für die, die gearbeitet haben. Ich hatte ja gesagt, dass die Mutter meiner Frau schwanger war. Eine Entbindung im Lager war schwierig, die meisten Neugeborenen wurden vernichtet.

37:42 - 40:11

Jüdisches Krankenhaus in Wien

»»Aber die Mutter meiner Frau hatte Glück und konnte zur Entbindung ins jüdische Krankenhaus nach Wien. Dort hat sie dann Edith geboren, die heute meine Frau ist. Der Leiter des Krankenhauses war schon vor der NS-Zeit dort Leiter. Aber er durfte weiterarbeiten, auch wenn er unter strenger Beobachtung stand und ständig verhört wurde. Es war eine ständige Lebensgefahr, wenn er jemanden verstecken würde – aber er hat es trotzdem gemacht. Als die SS-Leute eine Durchsuchung machen und an die Betten gehen wollten, hat er sie vor einer hohen Ansteckungsgefahr gewarnt.« Er zeigt ein Bild des Krankenhausleiters und ein Bild der Geburtsurkunde von Edith. »Es gibt wenige solcher Geburtsurkunden. Sie trägt einen Stempel des Hakenkreuzes und es steht geschrieben, dass sie Jüdin ist. Die Schwester meiner Frau starb im Lager.«

40:11 - 43:54

Genozid in Ungarn

Tomi Breuer zeigt ein Bild von seinen Angehörigen, auf dem auch Dr. Mengele zu sehen ist – der Mann, der mit einer einzigen Daumenbewegung über das Schicksal vieler Menschen entschieden hat. »Es war abzusehen, dass der Krieg bald zu Ende gehen würde, und Eichmann hatte sich ja bereit erklärt, alle ungarischen Juden auszurotten.« Da gab es verschiedene Möglichkeiten, dieses Ziel auch kurz vor Kriegsende noch zu erreichen. T. Breuer zeigt das Bild eines Denkmals am Ufer von Budapest aus bronzenen Schuhen. Hier mussten die Menschen in einer Reihe zusammenstehen, die Hände wurden ihnen zusammengebunden und dann wurde jeder zweite erschossen. Die, die tot waren, haben dann die, die neben ihnen angebunden waren mit ins Wasser gezogen – und so wurde die blaue Donau von Strauß zu einer roten Donau.

Noch schlimmer war der Todesmarsch von Budapest nach Wien. Die Menschen hatten so gut wie keine Kleidung und Schuhe und mussten 200km zu Fuß gehen. Das Ziel war, dass viele unterwegs zusammenbrechen und sterben – und so war es auch. Eine der Überlebenden war die Mutter einer Freundin von mir, die ein Buch darüber geschrieben hat. 1960 wurde Eichmann in Südamerika geschnappt, nach Israel ausgeliefert und dort zum Tode verurteilt.

43:54 - 52:35

Rückkehr nach Debrecen

»Als ich 5 Jahre alt war wurden wir aus dem Lager befreit. Wir sind dann nach Debrecen zurückgegangen – ich, meine Mutter und meine Großeltern. Was aus meinen Onkeln geworden ist, wissen wir bis heute nicht. Als wir zurückkamen musste meine Mutter ja Arbeit suchen, um uns zu ernähren. Und weil sie dann nicht auf mich aufpassen konnte, hat sie mich ins Kinderheim gebracht. Als er aus dem Lager befreit wurde, war er eigentlich nur noch Haut und Knochen. Von den 1231 jüdischen Kindern, die aus Debrecen deportiert wurden, sind etwa 70 zurück gekommen.«

»Von 5 Jahren bis so etwa 14 Jahre, habe ich viel Antisemitismus – auch körperlich – zu spüren bekommen. Ich wurde in einer Schule eingeschult, in der vor dem Krieg etwa 800 jüdische Kinder zur Schule gingen. Es war ein jüdisches Gymnasium, deshalb gab es auf dem Gelände auch eine Synagoge. Nach dem Krieg wurde das getrennt. Ein Erlebnis war, als ich als 5- oder 6Jähriger abends auf dem Heimweg war, da hat mich eine Gruppe von 13Jährigen geschnappt und an einen Strommasten gebunden und mich fast zu Tode geprügelt. Nach dem Krieg waren nur noch christliche Schüler auf der Schule. Ein anderer Junge und ich waren nach dem Krieg die einzigen jüdischen Schüler. Die meisten waren ok, aber manche haben mich auch verbal oder körperlich angegriffen. Auch die Lehrer hatten daran ihren Anteil. An Jom Kippur, dem großen Versöhnungsfest, dem höchsten Feiertag, hat ein Lehrer von mir verlangt, dass ich morgens um acht zu erscheinen habe. Aus lauter Angst bin ich um acht erschienen. Er hat mich dann in einen Lagerraum mitgenommen, wo er mir eine große ungarische Fahne gab und mich in den Schulhof stellte, wo ich die Fahne halten musste. In den Pausen kamen die anderen Schüler, die mich verspotteten, verfluchten und anspuckten. Neben mir war die Synagoge, die noch auf dem gleichen Platz stand. Und diesen Stern oben auf der Synagoge zu sehen, hat mir Stärke gegeben – ich wusste, ich war nicht allein.«

»Ich wollte gerne Medizin studieren, und musste deshalb in eine Schule, die mich auf das Medizinstudium vorbereiten würde.« Dazu musste er eine Aufnahmeprüfung machen. Als er sich zur Prüfung anmelden wollte, bekam er zu hören »Zuerst wir und dann….«. »Mir war klar, für Juden gibt es da keine Möglichkeit. Eine Frau, die gesehen hat, was mir angetan wurde, war meine Lehrerin aus der 5. Klasse. Sie hatte zwar Angst, öffentlich zu mir zu stehen, aber im Hintergrund tat sie alles, um mir zu helfen und mich zu verteidigen. Dass ich heute hier stehe, das habe ich ihr zu verdanken. Ich hatte viele Engel auf meinem Weg, aber der Hauptengel – das war sie.

52:35 - 1:03:21

Flucht aus Ungarn 1956

»1956 ist – zu meinem Glück – der Aufstand in Ungarn ausgebrochen. Das Ziel war, sich von der Sowjetunion zu befreien, aber viele sahen da auch eine Möglichkeit, sich von den Juden zu befreien. Sie haben die Flyer der früheren Jahre wieder ausgegraben und sind mit dem Stempel der Pfeilkreuzler wieder auf die Straßen gegangen. Meine Lehrerin hat mich auf der Namensliste derer gesehen, die erhängt werden sollten. Ihr Mann arbeitete bei der Stadt und hatte Einblick in die Listen. Er hat ihr das dann weitergegeben. Es herrschte eigentlich eine Ausgangssperre bei Dunkelheit. Aber diese Lehrerin hat ihr Leben auf´s Spiel gesetzt und ist durch die Dunkelheit einen Kilometer bis zu uns gelaufen, um meine Mutter zu warnen«. Sie sagte »Frau Breuer, wir müssen schauen, dass ihr Sohn fliehen kann.« »Ich sollte meine Mutter zurücklassen, und sie musste eine Entscheidung treffen, die für mein weiteres Leben ausschlaggebend war. Sie wusste, wenn sie mich jetzt gehen lässt, dann sieht sie mich unter Umständen nicht mehr wieder. Aber sie wollte mich auch nicht hängen sehen, deshalb hat sie sich dafür entschieden, mich gehen zu lassen. Es gab noch eine andere Familie, die fliehen wollte. Ich reiste dann quasi als ihr Adoptivsohn mit gefälschten Papieren mit ihnen. Wir flohen dann nach Österreich. In Budapest sollten wir bei einem Halt (Anm.: des Zugs) die gefälschten Papiere bekommen. In diesem Teil Ungarns durften sich nur die aufhalten, die da auch wohnten und arbeiteten. Etwas später musste ich dringend zur Toilette. Als ich sie im Zug suchte, fragte mich der Schaffner, ob ich vorhätte zu fliehen. Ohne lange nachzudenken habe ich spontan ja gesagt. Ich war damals 14 Jahre alt, und ich habe beschlossen, einfach vom Zug zu springen. Ich habe das gemacht, obwohl es dunkel und kalt war (es war November) – und ich musste wegen der Ausgangssperre besonders aufpassen, dass mich niemand sieht. Die Nacht verbrachte ich unter einer kleinen Brücke, am nächsten Morgen ging ich den Gleisen entlang, um etwas Essbares zu finden. Die ganze Zeit dachte ich an meine Mutter.«

»Ich kam dann an ein Städtchen und habe dort eine kleine Wirtschaft gefunden, wo mir eine Frau Brot und Tee gegeben hat. Auch sie hat mich gefragt, ob ich auf der Flucht bin. Ich habe ja gesagt, obwohl die Polizei nicht weit weg war und es ihr ein leichtes gewesen wäre, mich zu verraten und dafür noch Geld zu bekommen. Ich hatte viel Geld dabei. Meine Mutter sagte: »Wenn du es bis nach Israel schaffst, dann will ich, dass du dort gut beginnen kannst.« Die Frau dort hat mich gefragt, ob ich Geld habe, und ob ich den Weg zur Grenze kenne. »Ich sagte ihr, dass ich keine Ahnung hätte, wo ich bin, und dass ich eigentlich nur noch zu meiner Mutter wollte.« Sie meinte »Wenn du Geld hast, dann kann ich dir jemand organisieren, der dich sicher zur Grenze bringt.« Und so war es auch. »Innerhalb von 3 Nächten sind wir dann an die ungarisch-österreichische Grenze gekommen. Als wir uns der Grenze näherten, haben uns die Hunde der Grenzsoldaten vermutlich gerochen und haben angefangen zu bellen. Sie haben uns entdeckt und mein Begleiter ist verschwunden. Zwei Soldaten kamen mir fluchend und schreiend entgegen, und ich stand wir angefroren da und wusste nicht, was ich machen sollte. Sie forderten mich auf, umzudrehen und dahin zurückzugehen, wo ich herkam. Das habe ich zunächst gemacht. Ich bin ein paar Schritte gegangen und habe Schüsse gehört. Ich habe schnell geschaut, ob ich getroffen wurde. Dann habe ich etwas gemacht, was eigentlich völlig verrückt war: ich bin wieder umgedreht und ihnen entgegengerannt. Das war eigentlich das Zeichen eines Angriffs, aber sie haben nicht geschossen. Ich bin vor ihnen auf den Boden gefallen und habe sie um Erbarmen angefleht, dass sie mich doch über die Grenze lassen. Einer der Soldaten war Russe und meinte »Wir durchsuchen ihn.« Sie haben mir das ganze Geld abgenommen und auch die goldene Uhr, die mir mein Vater für meine Bar Mizpa hinterlassen hatte. Sie haben mir das alles abgenommen, und mir dann gezeigt, wie ich über die Grenze komme. Ich hatte große Angst, dass sie mir in den Rücken schießen und bin wahnsinnig schnell gerannt. Die 50m kamen mir vor wie 50km.«

1:03:21 - 1:05:15

Zwischenstation in Österreich 1956

»Und dann bin ich österreichischen Soldaten in die Hände gelaufen. Sie haben mich gefragt »Ist Budapest kaputt?« Ich habe ja gesagt. Zuhause hatten wir Jiddisch gesprochen, das war meine Muttersprache. So konnte ich mich mit ihnen verständigen und fragen, wo ich jetzt hin kann. Ich habe warme Kleidung und was zu essen bekommen, und dann bin ich weiter nach Wien.«

»Ich hatte einige Tage nichts zu essen und kam sehr hungrig dort an. Da habe ich in den Mülleimern nach Essen gesucht. Da hat mich ein Mann gesehen und hat gefragt, was ich da mache. Ich habe ihm geantwortet, dass ich hungrig bin und was zu essen suche. Er war auch ein Flüchtling aus Ungarn. Für 2 Wochen hat er mich adoptiert, hat mir Essen und Kleidung gekauft. Ihn bat ich dann, dass er mir bei der Auswanderung nach Israel hilft. Das hat er auch gemacht.

1:05:15 - 1:05:53

Auswanderung nach Israel

Dann begann meine Auswanderung nach Israel. Mit dem Schiff kam ich von Italien nach Israel. Und weil meine Großeltern, die mittlerweile schon in Israel waren, mich nicht versorgen konnten, kam ich auch dort in ein Internat.

1:05:53 - 1:08:14

Wiedersehen mit der Mutter

Nach etwa einem halben Jahr, saß ich mit Freunden auf der Wiese, als ich durch das Tor eine Gestalt kommen sah, die mir sehr vertraut war. Ich wusste zunächst nicht, wo ich sie einordnen sollte – es war meine Mutter. Es war so eine überwältigende Begegnung, dass ich gar nicht mehr sagen kann, was ich gemacht habe – es war einfach ein Gefühlschaos.

Die Freundin meiner Mutter, die Ärztin war, war zwischenzeitlich Professorin geworden. Sie hatte meiner Mutter eine Bescheinigung ausgestellt, dass sie nicht mehr arbeitsfähig sei – sozusagen ein Parasit – und so konnte sie Ungarn verlassen. Vor meiner Flucht hatten wir niemandem gesagt, was wir vorhatten, denn die Gefahr war groß, dass sie meine Mutter verhaften würden.

1:08:14 - 1:11:25

Leben in Israel

»Die Lehrerin, die mir bei der Flucht geholfen hatte, und ich, wir hatten ausgemacht, dass ich ihr ein Foto von mir schicke, wenn ich gut in Israel angekommen bin.« Dieses Foto, von dem Tag als er mit 14 Jahren in Israel ankam, zeigt er jetzt.

»In Israel habe ich dann gelernt, ich habe eine Ausbildung gemacht. Ich war an der Uni und bin Lehrer geworden und war 48 Jahre lang Lehrer. Wir haben geheiratet – und wie ich euch vorhin schon erzählt habe, waren wir quasi vom Jahr 0 an schon verbunden. Und es gab noch mehr Zeichen, warum wir zusammen sein wollten – aber das ist eine andere Geschichte.« Er zeigt noch Familienfotos seiner 4 Töchter und 2 Enkel. »Alle schön, alle klug – das ist die Entschädigung für das, was wir durchgemacht haben.«

1:11:25 - 1:19:50

Differenzierung

»Ihm ist wichtig zu erwähnen, dass es auch gute Leute im Krieg gab. »Die Überlebenden und der Staat Israel wissen das zu schätzen und verleihen immer wieder Urkunden an Menschen, die geholfen haben, Juden zu retten. Vermutlich habt ihr von Oskar Schindler gehört – solche Leute; auch Leute aus Deutschland. Eine besondere Frau war erst 20 Jahre alt. Andree Geulen war aus Belgien und hat 200 Kinder gerettet. Die Überlebenden haben ihr zu Ehren ein Lied geschrieben.« Dieses Lied und die Liste der geretteten Kinder werden eingespielt.

1:19:50 - 1:26:50

Botschaft

Das Lied für Andree Geulen ist ein Lied als Anerkennung und Wertschätzung für all diejenigen, die geholfen haben Leben zu retten. Tomi Breuer hat den Wunsch, dass die Jugendlichen, die vor ihm sitzen – wenn sie die Schule verlassen – ihren Teil zu einer besseren Welt beitragen. Dass ihre Generation Frieden herbeiführt und ein Ende macht mit allen Kriegen. Er bringt seinen Dank und seine Freude darüber zum Ausdruck, dass er da sein durfte, und dass die Jugendlichen so aufmerksam zugehört haben. Er ist sehr bewegt.

Es folgt ein Schlussteil mit Fragen: Seine Großeltern wanderten 1950 in Israel ein. Als sie aus dem Lager befreit wurden, wollte sein Großvater sehen, ob die Druckerei noch steht. Vor dem Krieg hatte er angefangen, das erste ungarisch-hebräische Wörterbuch zu drucken. Er kam mit dem Ziel zurück, das zu vervollständigen. In der Zeit durften alte Leute das Land verlassen, aber dadurch, dass er und seine Mutter jung waren, durften sie nicht mitgehen. Er hatte keinen Sprachkurs, aber mit den anderen Kindern zusammen, hat er dann Hebräisch gelernt. »Ich hatte keine Kindheit, aber ich liebe Kinder sehr. Ich wollte Lehrer oder Kinderarzt aus Liebe zu den Kindern werden. Mit Medizin hat es nicht geklappt, aber mit dem Lehramt – und das mache ich mit Liebe. Seit 20 Jahren, seit ich in Rente bin, bin ich noch als Ehrenamtlicher in Förderschulen aktiv. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass auch diese Kinder – trotz ihrer Einschränkung - mal die Möglichkeit bekamen, nach Auschwitz zu fahren und das zu sehen.«

»Als wir geheiratet haben, habe ich meiner Frau gesagt, dass ich 10 Kinder möchte. Ich wollte, dass meine Kinder nicht wie ich hin und her geschubst werden, sondern dass sie wissen, wo sie dazu gehören. Wir haben uns dann auf sechs geeinigt, aber bei vier aufgehört. Aber wir haben dafür noch 10 Enkel bekommen, freut er sich.«

»Ich möchte mich mit einem Schalom – was Frieden bedeutet – verabschieden. Ich freue mich sehr, euch heute hier zu sehen, und ich sehe euch schon als die Gestalter der Zukunft vor mir. Wenn der kleine Tropfen heute von mir im großen Meer etwas bewirkt, dann bin ich froh. Ich bin stolz auf euch, ich liebe euch, ich schätze euch.«