Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 32

Vorbereitung auf die Überfahrt

Mitte Dezember 1945 erhielt die Gruppe in Reggio Emilia erste Signale, dass die Überfahrt nach Erez Israel bevorstand. Das bedeutete, dass sich die Frauen und Männer nicht mehr vom Anwesen der Villa Terrachini entfernen durften, jederzeit bereit sein und ihre Sachen gepackt haben mussten. Die Regeln waren strikt. Keiner durfte mehr als 10 kg Gepäck mitnehmen. Alle Bilder und Dokumente, die Hinweise auf ihre Identität enthielten, mussten einem Soldaten mit Namen Dod Chaim übergeben werden. In Erez Israel würden sie diese für sie sehr wertvollen Dokumente wiederbekommen. Gerade die Bilder waren oftmals die einzige Verbindung, welche die Überlebenden zu ihren ermordeten Verwandten hatten. Wer solche Bilder besaß, hütete sie wie einen kostbaren Schatz. Mordechai hatte weder Dokumente noch Bilder, nur seine Erinnerung – und die Aufzeichnungen über seine Zeit in Auschwitz, die er in Radom angefertigt hatte (siehe Kap. 24). Diese Aufzeichnungen behielt er bei sich.

Für die Überfahrt mussten zahlreiche Maßnahmen getroffen werden, die am Ende haargenau zusammenpassen mussten. Dazu gehörte, dass Dod Chaim von nun an jeden Morgen mit speziellen Übungen die Reaktionsfähigkeit und Schnelligkeit der Gruppenmitglieder trainierte. Zudem wurden die Aufgaben genau verteilt, damit das Schiff zügig und reibungslos be- und entladen werden konnte.
Zur selben Zeit waren junge Leute im Kibbuz Magenta bei Mailand damit beschäftigt, Lebensmittel und Ausrüstung zu packen, die für die Schiffsreise von Hunderten illegaler Einwanderer benötigt wurden. Dazu gehörten Essenskörbe, die mit Dosenfleisch, Zwieback und Bonbons gefüllt wurden. Ein Korb enthielt die Tagesration für zehn Personen.
Parallel dazu wurden im Hafen von Savona – 56 km westlich von Genua – auf einem Schiff geheime Vorbereitungen getroffen.

Abbildung 1: Das Schiff »Rondine« bzw. »Enzo Sereni«; ca. 1946.

Das Schiff, das die illegalen Einwanderer nach Palästina bringen sollte, trug den Namen »Rondine« (deutsch »Schwalbe«).1 Der Leiter des Mossad in Italien, Jehuda Arazi, hatte das neu gebaute Schiff durch einen Mittelsmann gekauft. Es erhielt den neuen Namen »Enzo Sereni«. Enzo Sereni war ein italienischer Jude und Zionist. Er hatte im Zweiten Weltkrieg als Fallschirmspringer bei den Briten gedient, wurde von den Deutschen jedoch gefasst und im November 1944 in Dachau ermordet.
Der Schoner fuhr zum Schein unter panamaischer Flagge und transportierte angeblich Hühner. Er wurde nun für die Überfahrt nach Palästina mit Hunderten Menschen an Bord vorbereitet. Die Verantwortung dafür trug Gad Lasker, der Kommandant des Schiffs und Mitglied des Palyam.2 Er stammte ursprünglich aus dem polnischen Sieradz und war 1935 nach Erez Israel ausgewandert.

Abbildung 2: Juden, die das DP-Lager Marina Di Leuca/Italien verlassen; 1946.

Am Abend des 6. Januar 1946 war es soweit. In der Villa Terrachini fuhren fünf Armeelaster ein. Mordechai und die anderen waren aufgeregt – endlich ging es los! Zügig stiegen sie in die Lastwagen, dann fuhren sie los.3 Unterwegs stießen weitere Lastwagen dazu. Am Ende hatte sich eine Kolonne aus 36 LKWs gebildet. In ihnen befanden sich über 900 Menschen, die in unterschiedlichen Hachscharot in Norditalien gesammelt und für die illegale Einwanderung in Palästina vorbereitet worden waren.
Die Fahrt von Reggio Emilia bis Savona betrug rund 270 km durch die Nacht. Als Mordechais LKW endlich anhielt und sie am Ziel ausstiegen, war es noch dunkel. Da es auch im LKW dunkel war, erkannten sie schnell wo sie waren. Die Überraschung war groß, denn sie sahen weder einen Hafen noch ein Kai und schon gar kein Schiff. Was sie aber erkannten, waren die Gebäude der Hachscharat Hamored. Sie waren wieder zurück! Was war geschehen? Mordechai und die anderen erfuhren, dass der Verantwortliche des Konvois, der in einem Jeep vorausgefahren war, den Fahrern der LKWs befohlen hatte umzukehren, weil zu viel britische Militärpolizei in Savona unterwegs war. Er hatte die Operation abgebrochen, um sie nicht zu gefährden. Die Männer und Frauen, die hinten in den LKWs saßen, hatten von all dem nichts mitbekommen.
Enttäuscht gingen Mordechai und die anderen nach einer langen Fahrt durch die italienische Nacht in die Zimmer, die sie am Abend zuvor hoffnungsvoll verlassen hatten, und suchten etwas Schlaf.
Am nächsten Nachmittag starteten sie zum zweiten Mal. Diesmal erreichten sie ihr Ziel.

Zum ganzen Kapitel:
Josef Zwi Halperin, Der Weg in die Freiheit 1945 – 1946, 1996 (Hebräisch).
The Voyage of the »Enzo Sereni«, zusammengestellt von Tzvi Ben Tzur, ohne Jahr, vgl. http://www.palyam.org/English/Hahapala/hf/hf_Ancho.pdf (13.06.2020).
https://de.wikipedia.org/wiki/Enzo_Sereni (13.06.2020).
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Alija-Bet-Fl%C3%BCchtlingsschiffe (13.06.2020).
https://nl.wikipedia.org/wiki/Enzo_Sereni_(schip,_1945) (13.06.2020).

1Abb. 1: Unbekannter Autor, ca. 1946, Clandestine Immigration and Navy Museum, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:PikiWiki_Israel_7559_Immigration_to_Israel.jpg (13.06.2020).
2Siehe Kap. 33. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Palyam (13.06.2020); http://www.palyam.org/indexEn.php (13.06.2020).
3Abb. 2: Unbekannter Autor, Public Domain, 1946, Yad Vashem Photo Archives 3380/481, https://www.yadvashem.org/yv/en/exhibitions/dp_camps_italy/index.asp#top (02.05.2020). Das Foto zeigt weder die Gruppe von Mordechai Papirblat noch Reggio Emilia, sondern die erste Gruppe jüdischer Ma’apilim, die von dem DP-Lager Marina Di Leuca/Italien nach Palästina aufbrechen.

Autor: Thorsten Trautwein, 02.08.2020