Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 31.1

Hintergrund: Alija – Erez Israel – Zionismus

Das hebräische Wort »Alija« (deutsch »Hinaufgehen«, »Hinaufziehen«, »Aufsteigen«; Plural Alijot) bezeichnet zunächst allgemein das »Hinaufgehen« zu einem höher gelegenen Ort, dann besonders das »Hinaufgehen« nach Jerusalem bzw. zum Jerusalemer Tempel, da diese oben auf einem Bergrücken bzw. Berg liegen (z.B. 2. Samuel 24,18f). Dann wird der Begriff für die Wallfahrt zum Jerusalemer Tempel an einem der drei jährlichen Wallfahrtsfeste verwendet (Pessach, Schawuot, Sukkot; z.B. 2. Mose 34,24).
586 v.Chr. zerstörten die Babylonier die Stadt Jerusalem und den Tempel. Sie verschleppten die politische und religiöse Elite nach Babylon ins Exil. Erst 539 v.Chr. erlaubte der Perserkönig Kyros II. den Exilierten und ihren Nachkommen wieder in ihre Heimat zurückzukehren und die Stadt Jerusalem mit dem Tempel wiederaufzubauen. In Esra 1,3 und 2. Chronik 36,23 wird dabei das Verb »hinaufziehen« verwendet. Der Begriff »Alija« als die Rückkehr von Juden aus dem Exil bzw. aus der Diaspora1 ins Land der Väter nach Erez Israel hat hier seine Wurzel.2 Im Lauf der jüdischen Geschichte kam und kommt es immer wieder zu Alijot, die häufig mit der Verfolgung von Juden zusammenhängen. Seit der Entstehung des modernen, politischen Zionismus im 19. Jahrhundert bezeichnet der Begriff »Alija« allgemein die jüdische Einwanderung nach Erez Israel und seit 1948 in den Staat Israel.

Doch was meint der hebräische Begriff »Erez Israel« (deutsch »Land Israel«)? Der Begriff besitzt verschiedene Bedeutungsebenen, die sich immer wieder überschneiden. Zwei seien hier angeführt:
a) Erez Israel als Territorium bezeichnet das Gebiet, in dem sich die Volkswerdung und Staatenbildung Israels vollzogen hat. In den verschiedenen Epochen der Geschichte Israels hat sich das mit dem Begriff bezeichnete Gebiet geografisch immer wieder verändert (z.B. 1. Könige 5,5 »von Dan bis Beerscheba«). Besonders die politisch-militärischen Machtverhältnisse in der Region entschieden über den Verlauf der jeweiligen Grenzen.
b) Die theologische Dimension von Erez Israel: Im Kontext der Verheißungen Gottes (z.B. Landverheißung) bzw. der Heilsgeschichte ist Erez Israel das Land, das Gott gehört und er seinem Volk zur Verfügung stellt. Es ist ein Land der Fülle (z.B. 2. Mose 3,8) und damit Ausdruck des Segens und der Fürsorge Gottes. Es kann enorme Ausdehnungen annehmen, die Gebiete umfassen, die nie im Besitz des Volkes Israel waren (z.B. 1. Mose 15,18: »von dem Strom Ägyptens an bis an den großen Strom Euphrat«).
Mit der Eroberung Jerusalems durch David (2. Samuel 5,6-10), dem Bau des Tempels durch Salomo (10. Jahrhundert v.Chr.; 1. Könige 6), dem Untergang des Nordreichs (722 v.Chr.) und den Kultreformen durch Josia (seit ca. 628 v.Chr.; 2. Könige 23,1-15) wurde Jerusalem das politische und religiöse Zentrum von Erez Israel. Ein folgenschwerer Einschnitt erfolgte mit den beiden Niederlagen gegen die Römer in den jüdischen Aufständen der Jahre 66 – 70 n.Chr.3 und 132 – 135 n.Chr.4. Vor allem nach der zweiten Niederlage im sog. Bar-Kochba-Aufstand war die Aussicht auf einen eigenen jüdischen Staat oder wenigstens auf die Wiedererrichtung des Jerusalemer Tempels dahin. Die römische Provinz erhielt den Namen Syria Palaestina und Jerusalem wurde in Aelia Capitolina umbenannt. Auch wenn weiterhin Juden sowohl in der Provinz als auch in Aelia Capitolina lebten, lagen die Zentren der jüdischen Religion und der jüdischen Bevölkerung seitdem in anderen Regionen der Erde. Dabei hing es immer wieder von der Haltung der jeweiligen Herrscher ab, ob sich in ihrem Gebiet jüdisches Leben und jüdischer Glaube entfalten konnten oder nicht. Im Lauf der Jahrhunderte kam es so zu unterschiedlichen Zentren jüdischen Lebens. Gleichzeitig blieben Erez Israel und vor allem Jerusalem für die jüdische Identität und in der alltäglichen Glaubenspraxis (z.B. Heilige Schriften, Gebete, Feste, Synagoge) grundlegende Größen. Die Alijot nach Erez Israel (s.o.) sind ein Ausdruck der andauernden Verbundenheit der Juden mit dem Land der Väter bzw. mit dem Land der Verheißung. Allerdings stellen im Lauf der Geschichte die jüdischen Wanderbewegungen innerhalb der Diaspora zahlenmäßig den Regelfall dar (vgl. z.B. Kap. 1).

Abbildung 1: Theodor Herzl; vor 1900.

Im 19. Jahrhundert wirkten unterschiedliche Faktoren zusammen, die zur Entstehung des modernen politischen Zionismus geführt haben: zum Beispiel der europäische Nationalismus, jüdische Siedlungsprojekte, bestimmte Formen christlicher Eschatologie, Philosemitismus und Antisemitismus. Zur Vielfalt des Judentums gehörte auch, dass der politische Zionismus nur von einer Minderheit der Juden aktiv geteilt wurde, wie die jüdischen Migrationswege im 19. und 20. Jahrhundert zeigen. Angehörige des orthodoxen Judentums lehnten ihn als Frevel gegenüber den messianischen Verheißungen ab. Liberale Juden identifizierten sich mit den Nationalstaaten, in denen sie ihre Heimat hatten (Assimilation), und sozialistisch bzw. kommunistisch eingestellte Juden orientierten sich am Ideal einer Weltgemeinschaft Gleichgesinnter. An einem jüdischen Nationalstaat in Palästina oder anderswo hatten sie aus unterschiedlichen Gründen kein Interesse.
Einer der maßgeblichen Begründer des politischen Zionismus war Theodor Herzl (1860 – 1904).5 In seinem Buch »Der Judenstaat« (1896) beschrieb er, dass die Juden ein Volk seien, das wegen Antisemitismus, gesetzlicher Diskriminierung und gescheiterter Assimilation (Aufnahme von Juden in die Gesellschaft) einen eigenen jüdischen Staat bräuchten. Dieser solle in Palästina oder Argentinien gegründet werden. Mit anderen organisierte Herzl den ersten Zionistischen Weltkongress in Basel (1897), auf dem die Zionistische Weltorganisation gegründet und Herzl zu deren Präsident gewählt wurde. Als Ziel wurde die Schaffung einer »Heimstätte des jüdischen Volkes« in Palästina formuliert. Trotz des großen Widerstands, den Herzl erfuhr, ebneten seine Reden und Schriften der Gründung des Staates Israel den Weg.

Zum ganzen Kapitel:
Wolfgang Benz, Antisemitismus. Präsenz und Tradition eines Ressentiments, 3., akt. Aufl., Frankfurt a.M. 2020, S. 186-191.
Michael Brenner, Was ist Zionismus?, 28.03.2008, Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier Israel; https://www.bpb.de/internationales/asien/israel/44941/was-ist-zionismus (03.05.2020).
Uffa Jensen, Elik und die »Jeckes«. Die aschkenasischen Juden, 30.10.2002; https://www.hagalil.com/israel/israel-reisen/tel-aviv/aliya.htm (11.06.2020).
Andrea Livnat, Theodor Herzl (1860-1904),10.05.2007; http://www.zionismus.info/grundlagentexte/gruender/herzl.htm (04.06.2020).
Angelika Timm, Die Gründung des Staates Israel, Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier Israel, 28.03.2008; https://www.bpb.de/internationales/asien/israel/44995/gruendung-des-staates-israel (03.05.2020).
Ohne Autor, Escape from Europe – the "Bericha", Yad Vashem Educational Materials, ohne Jahr; https://www.yadvashem.org/education/educational-materials/learning-environment/bericha.html (05.02.2020).
https://www.hagalil.com/der-weg-zum-staat-israel/ (11.06.2020).
https://www.hagalil.com/eretz-israel/ (11.06.2020).
https://de.wikipedia.org/wiki/Alija (11.06.2020).
https://de.wikipedia.org/wiki/Eretz_Israel (11.06.2020).
https://de.wikipedia.org/wiki/Israel#Geschichte (11.06.2020).
https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCdische_Diaspora (11.06.2020).
https://de.wikipedia.org/wiki/Pal%C3%A4stina_(Region) (11.06.2020).
https://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Herzl (11.06.2020).
http://www.zionismus.info/ (11.06.2020).
http://www.zionismus.info/grundlagentexte/index.htm (11.06.2020).

1Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Diaspora (03.05.2020).
2Die hebräische Bibel, der Tenach, endet mit dem Verb »waja’al« (2.Chr 36,23: deutsch »und er ziehe hinauf«).
3Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCdischer_Krieg (03.05.2020).
4Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bar-Kochba-Aufstand (03.05.2020).
5Abb. 1: Herzl.jpg, unbekannter Autor, vor 1900; derivative work: Alberto Fernandez Fernandez, 2009, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Theodor_Herzl_retouched.jpg (04.06.2020).

Autor: Thorsten Trautwein, 07.08.2020