Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 36.1

Hintergrund: Kibbuz Gescher

Ein Kibbuz (Plural »Kibbuzim«) ist eine landwirtschaftliche Gemeinschaftssiedlung, in der alle Mitglieder im Sinne des sozialistischen Zionismus dieselben Rechte haben; d.h. alle Entscheidungen, die den Kibbuz betreffen, werden diskutiert und gemeinschaftlich-demokratisch getroffen. Ebenso werden die anfallenden Arbeiten gemeinsam erledigt: Verwaltung, Landwirtschaft, Küche, Wäscherei, Schneiderei usw. Auch der Besitz gehört allen und selbst die Kinder werden häufig gemeinschaftlich erzogen. Im Lauf der Jahrzehnte haben sich die Kibbuzim den sich verändernden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst.

Der Kibbuz Gescher liegt ca. 230 m unter dem Meeresspiegel unmittelbar am Jordan. Der Name Gescher, deutsch »Brücke«, stammt von drei Brücken über den Jordan aus unterschiedlichen Epochen. Der Ort liegt an der strategisch wichtigen Ost-West-Verbindung zwischen Palästina und Transjordanien sowie an der Nord-Süd-Verbindung zwischen See Genezareth (10 km) und Beth Schean (17 km) im Jordantal. Über eine der Brücken verlief die 160 km lange Seitenstrecke der Hedschas-Bahn (1905 – 1952), die Dar‘a in Transjordanien und den Hafen von Haifa verband.1

Abbildung 1: Ankunft im Kibbuz Gescher. Im Hintergrund sind der jordanische Militärposten (links) und die Eisenbahnbrücke über den Jordan (rechts) erkennbar; 1946.

Bereits 1921 und 1924 hatten jüdische Pioniere (hebräisch »Chaluzim«) an dieser Stelle versucht, eine Siedlung zu errichten, doch erst 1939 gelang die dauerhafte Gründung eines Kibbuz. Mit der finanziellen Unterstützung durch Baron Edmond de Rothschild war das Gelände gekauft worden und am 13. August 1939 begannen rund 50 junge Männer und Frauen den Kibbuz aufzubauen. Sie waren Mitglieder einer jüdischen Jugendbewegung aus Palästina und junge Juden aus Deutschland, die 1936 mit der Jugend-Alija ins Land gekommen waren. In der Folgezeit kamen weitere Neueinwanderer hinzu. 1946 waren es rund 35 Paare mit 35 Kindern und 30 Ledige. Die jungen Leute waren zwischen 18 und 25 Jahre alt. 25 von ihnen standen im Dienst des britischen Militärs und waren in Europa stationiert – einer von ihnen war Ascher Mittelmann (siehe Kap. 30).2

Abbildung 2: Das Wasserkraftwerk, historische Aufnahme; Jahr?

Der Kibbuz Gescher gehörte zur Gruppe der so genannten Turm- und Palisadensiedlungen. Das waren Kibbuzim, die wegen der zunehmenden Spannungen zwischen der arabischen und der jüdischen Bevölkerung, die schließlich zum Arabischen Aufstand (1936 – 1939) geführt hatten, errichtet worden waren (siehe Kap. 31.2). Da es im Laufe des Aufstands zu Angriffen auf landwirtschaftliche jüdische Siedlungen gekommen war, wurden die in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre gegründeten Kibbuzim mit einem Wachturm und einer Mauer gebaut (mit Turm und Palisade). Mit Hilfe dieser Kibbuzim wurden unwirtliche Gegenden landwirtschaftlich erschlossen, der jüdische Bevölkerungsanteil in dünn besiedelten Gegenden erhöht und der Verlust von grenznahen und strategisch wichtigen Gebieten verhindert. Im Jordantal zwischen See Genezareth und Beth Schean wurden mehrere solcher Kibbuzim gegründet.3
Die strategische Bedeutung der Ortslage wird dadurch deutlich, dass die Briten in südlicher Richtung eine Polizeikaserne errichtet hatten und sich auf einer Anhöhe in östlicher Richtung ein Wachturm des jordanischen Militärs befand und immer noch befindet.
Nach dem Unabhängigkeitskrieg 1949 wurde der Kibbuz mehrere hundert Meter entfernt vom Jordan neu errichtet.

Abbildung 3: Das Wasserkraftwerk heute, außer Betrieb; 2019.

Drei Kilometer nördlich des Kibbuz befand sich seit 1932 ein Wasserkraftwerk der Palestine Electric Corporation, das Pinchas Rothenberg gebaut hatte.4 Es trug den Namen Naharajim (deutsch »zwei Flüsse«), weil es von den beiden Flüssen Jarmuk und Jordan gespeist wurde, die dort zusammenfließen. Das Kraftwerk kam Juden und Arabern zugute.5

Karten und Fotos: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Gesher?uselang=de.

Zum ganzen Kapitel:
Josef Zwi Halperin, Der Weg in die Freiheit 1945 – 1946, 1996 (Hebräisch).
Angelika Timm, Die Gründung des Staates Israel, Dossier Israel, 28.03.2008, siehe: https://www.bpb.de/internationales/asien/israel/44995/gruendung-des-staates-israel (15.02.2019).
Jim G. Tobias, Die Kibbuzim. Landwirtschaftliche Siedlungen als Geburtshelfer des jüdischen Staates in Palästina, 08.12.2014; https://www.hagalil.com/2014/12/kibbuzim/ (11.07.2020).
http://www.naharayim.co.il/ (12.08.2019)
https://de.wikipedia.org/wiki/Kibbuz (12.08.2019).
https://de.wikipedia.org/wiki/Gescher_(Kibbuz) (22.03.2019).

1Das sog. Transjordanien gehört zum britischen Mandatsgebiet. Transjordanien erhält am 22. Mai 1946 von den Briten die Unabhängigkeit. Am 25. Mai 1946 nimmt Abdallah I. den Königstitel an. Die jordanische Armee bleibt jedoch britisch kontrolliert; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Jordaniens (10.08.2019); https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke_Haifa%E2%80%93Dar%CA%BF%C4%81 (12.08.2019); https://web.archive.org/web/20130928160503/http://naharayim.co.il/activity13-en.asp (19.08.2019).
2Abb. 1: Josef Zwi Halperin (?), aus: Josef Zwi Halperin, Der Weg in die Freiheit 1945 – 1946, 1996, Bild Nr. 64, ohne Seitenzahl (Hebräisch); Scan bearbeitet von Timo Roller, 2020.
3https://de.wikipedia.org/wiki/Turm-und-Palisaden-Siedlung (12.08.2019).
4Abb. 2 und 3: Fotos, Timo Roller, 2019. Die historische Aufnahme Abb. 87 stammt von einer Informationstafel der Ausstellung im Museum des Old Kibbuz Gesher/Naharayim Experience.
5https://de.wikipedia.org/wiki/Pinchas_Ruthenberg (09.08.2019).

Autor: Thorsten Trautwein, 04.08.2020