Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 35

Endgültig frei! Aber wohin? (28. Januar – 5. Februar 1946)

Was für eine Freude! Die illegalen Einwanderer waren jetzt offiziell freie Einwohner des Landes, das ihnen nun offenstand! Sie konnten gehen, wohin sie wollten. Aber wohin sollten sie gehen? Wohin sollte Mordechai gehen?
Der ursprüngliche Plan der Mitglieder der Hachschara in Reggio Emilia war es, Ascher Mittelmann in den Kibbuz Gescher zu folgen (siehe Kap. 30). Sie waren von seiner Persönlichkeit und seinem Engagement überzeugt. Er lebte Toleranz und zeigte ihnen gegenüber Sympathie und Offenheit. Doch war er vom Militärdienst nicht befreit worden und hatte in Italien zurückbleiben müssen. Sie hatten darauf vertraut, dass er ein guter Vermittler im Kibbuz sein würde. Schließlich war für sie das Leben im Land und erst recht in einem Kibbuz fremd. Sie wollten nirgends hin, wo sie nur als Arbeitskraft betrachtet wurden. Was sollten sie jetzt tun? Sie beschlossen, am nächsten Morgen gemeinsam über ihre Zukunft zu entscheiden. Sie, das waren die verbliebenen 37 Mitglieder der Plugat Lacherut und der Plugat Hasolel sowie 13 weitere Personen, die sich ihnen angeschlossen hatten, insgesamt 50 junge Leute im Alter zwischen 18 und 23 Jahren, die in der Regel weder eine abgeschlossene Schul- und schon gar keine Berufsausbildung hatten.

Nachdem sie noch einmal über die anstehenden Fragen geschlafen hatten, kam es zur Entscheidung. Josef Zwi Halperin, der Leiter der Plugat Lacherut, moderierte die harten Diskussionen und die Wahlen. Drei Entscheidungen wurden getroffen:
1. Man entschied sich für ein Leben im Kibbuz.
2. Man entschied sich für einen Kibbuz, der zu einer bestimmten Richtung gehörte.
3. Die Wahl zwischen dem Kibbuz Nizzanim und dem Kibbuz Gescher fiel auf den Kibbuz Gescher im Jordantal.

Allerdings hatten sie zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Kontakt zum Kibbuz Gescher und wussten nicht, ob sie dort überhaupt aufgenommen würden. So musste die Gruppe ihre Entscheidung erst einmal an den Kibbuz Gescher übermitteln, was sie dann auch taten. Bis diese Frage entschieden war, durften sie weiterhin in Atlit bleiben.

Am 31. Januar 1946 traf Zwi Schiffmann, der Abgesandte des Kibbuz Gescher in Atlit ein. Es ging in dem folgenden Gespräch nicht einfach um die Frage, ob sie im Kibbuz aufgenommen werden würden oder nicht. Vielmehr wurden die Bedingungen einer Mitgliedschaft im Kibbuz ausgehandelt. Ein wichtiges Anliegen war den möglichen Neumitgliedern, ob der Kibbuz den jungen Leuten eine Ausbildung ermöglichen könnte. Zwi Schiffmann machte ihnen Hoffnung und sagte, dass der Kibbuz grundsätzlich dafür bereit wäre, obwohl er nicht darauf eingestellt wäre, eine so große Zahl an Neumitgliedern aufzunehmen. Sie müssten sich auf Schwierigkeiten einstellen. Man würde aber versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Nach weiteren Gesprächsrunden stimmte man zu. Zwi Schiffmann reiste ab und wieder hieß es zu warten, denn vor einer endgültigen Aufnahme, musste zunächst die Kibbuzversammlung den Abmachungen zustimmen.

Abbildung 1: Kartenausschnitt Palästina topografisch; 1917. Die rote Linie beschreibt die Fahrstrecke von Atlit zum Kibbuz Gescher.

Am Sonntag, 3. Februar wurde im Kibbuz Gescher eine Versammlung abgehalten, bei der Zwi Schiffmann die Gruppe der Neueinwanderer beschrieb und ihre Anliegen vorbrachte. Es ging immerhin um die Aufnahme von 50 Personen. Die meisten würden wohl nur vorübergehend in den Kibbuz kommen, bis sie einen anderen Platz im Land gefunden hätten. Mehrere Mitglieder des Kibbuz zweifelten an der Fähigkeit, eine so große Gruppe aufnehmen und in die alltägliche Arbeit integrieren zu können. Das Hauptproblem war die Unterbringung, da der vorhandene Wohnraum nicht ausreichte. Es war klar, dass alle Einschnitte hinnehmen müssten. Nach intensiven Beratungen beschloss die Kibbuz-Versammlung, die Neueinwanderer aufzunehmen. Ein Aufnahmerat wurde gebildet, der alles vorbereiten sollte. Der positive Bescheid wurde nach Atlit übermittelt.

Nun, da die weiteren Schritte geklärt waren, hieß es Abschied zu nehmen. Die Plugat Lacherut, die seit Kielce zusammen war, löste sich auf. Manche gingen zu Verwandten, die unter 18-Jährigen kamen in spezielle Kibbuzim der Jugend-Alija und weitere 14 Personen – darunter Mordechai – brachen in Richtung Kibbuz Gescher auf. Der Abschied war wehmütig.

Abbildung 2: Zwischenstopp in Haifa auf dem Weg nach Gescher; 1946.

Die Fahrt in den Kibbuz Gescher
Am Dienstag, 5. Februar verließen die 50 jungen Leute das Internierungslager für illegale Einwanderer am Mittelmeer in Atlit. In zwei Bussen der Firma Egged fuhren sie als freie Menschen durch ein für sie neues und unbekanntes Land, das ihnen gleichzeitig aus der Bibel, aus Liedern und von Geschichten her seit ihrer Kindheit vertraut war: Sie fuhren durch Haifa , um den Sporn des Karmel herum und dann durch die Jesreel-Ebene. Sie passierten die Siedlungen Jagur, Afula, Kfar Jecheskel, En Harod und Gennigar. In ihren kühnsten Träumen hätten sie sich vor einem Jahr niemals vorstellen können, dass sie als freie Menschen heute hier sein würden. Sie erinnerten sich an den Freudenjubel der italienischen Rückkehrer bei der Überquerung der österreichisch-italienischen Grenze (siehe Kap. 29). Jetzt waren sie es, die voll Dankbarkeit jubelten und sangen.

Zum ganzen Kapitel:
Josef Zwi Halperin, Der Weg in die Freiheit 1945 – 1946, 1996 (Hebräisch).

1Abb. 1: Josef Zwi Halperin (?), aus: Josef Zwi Halperin, Der Weg in die Freiheit 1945 – 1946, 1996, Bild Nr. 63, ohne Seitenzahl (Hebräisch); Scan bearbeitet von Timo Roller, 2020.
1Abb. 2: Cyril Falls, A. F. Beck, History of the Great War Based on Official Documents by Direction of the Historical Section of the Committee of Imperial Defence Military Operations Egypt & Palestine from June 1917 to the end of the War, Volume 2 Part 1; übertragen aus en.wikipedia nach Commons, Original Uploader war RoslynSKP at en.wikipedia (25. Juli 2013 (Original-Hochladedatum)), gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32105176 (23.01.2020); rote Linie von Thorsten Trautwein eingezeichnet, 20.06.2020.

Autor: Thorsten Trautwein, 04.08.2020