Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 40

1948: Staatliche Unabhängigkeit – Krieg – Mordechai wird schwer verwundet

Im Laufe des Jahres 1947 eskalierten die Unruhen zwischen der britischen Mandatsregierung und jüdischen Unabhängigkeitsgruppen, aber auch die arabische Nationalbewegung forderte das Ende der britischen Herrschaft. Im Mai 1947 stimmte ein Sonderausschuss der UN-Vollversammlung für das Ende des britischen Mandats, das am 29. November 1947 von der zweiten UN-Vollversammlung beschlossen wurde (33 Für-, 13 Gegenstimmen, zehn Enthaltungen; Resolution 181.II). Der Beschluss bedeutete einen Teilungsplan, der die Gründung eines jüdischen und eines palästinensisch-arabischen Staates vorsah; der Großraum Jerusalem sollte unter internationaler Kontrolle stehen. Alle drei Gebiete sollten eine Wirtschaftsunion bilden. Die sechs UN-Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga lehnten den Teilungsplan ab. Sie kündigten die Bildung einer »Arabischen Befreiungsarmee« an.
Seit dem 29. November 1947 nahmen die Kämpfe zwischen arabischen und jüdischen Militäreinheiten zu. Umkämpft wurden die Regierungsgebäude, Armeelager und Polizeiposten, welche an strategisch wichtigen Orten lagen und von den Briten zunehmend geräumt wurden. Die jüdische Haganah begann damit, die dem jüdischen Staat zugesprochenen Gebiete, die jüdischen Siedlungen und den Zugang nach Jerusalem zu sichern. Besonders zwischen Tel Aviv und Jerusalem wurden die Kämpfe schwerer. Am 9. April 1948 richteten Einheiten der Militärorganisation Ezel im arabischen Dorf Deir Jassin ein Massaker mit über 250 Opfern an. Palästinensische Vergeltungsaktionen führten zu einer weiteren Eskalation.

Abbildung 1: David Ben Gurion proklamiert am 14.05.1948 die Unabhängigkeit des Staates Israel.

Das britische Mandat über Palästina endete am 14. Mai 1948 (siehe Kap. 31.2). Am Nachmittag verkündet David Ben-Gurion im Tel Aviver Stadtmuseum »kraft des natürlichen und historischen Rechts des jüdischen Volkes und aufgrund des Beschlusses der UNO-Vollversammlung« die Errichtung des Staates Israel.1 Juden auf der ganzen Welt und besonders in Israel saßen gespannt vor den Radiogeräten und feierten anschließend die Gründung ihres Staates mit großer Begeisterung. Die USA und die Sowjetunion erkannten den neuen Staat unmittelbar an. Doch noch in derselben Nacht erklärten Ägypten, Saudi-Arabien, Transjordanien, der Libanon, der Irak und Syrien dem neuen Staat den Krieg. Auf die Faszination und die Freude über den eigenen jüdischen Staat seit 2000 Jahren Staatenlosigkeit des jüdischen Volks folgte der so genannte Unabhängigkeitskrieg bzw. der erste Arabisch-Israelische Krieg.

Wieder ein Krieg, der Mordechais Leben verändern oder sogar beenden konnte. Mordechai war mittlerweile 25 Jahre alt und wurde in die Givati Brigade eingezogen. Sein Einsatzgebiet lag im Süden des Landes, in der Wüste Negev. Bei einer Fahrt fuhr sein Jeep jedoch auf eine ägyptische Mine. Die Explosion verletzte Mordechai schwer und er wurde ins Feldlazarett gebracht. Obwohl seine Verletzung an der Schulter schwer war, schien sich niemand um ihn kümmern zu wollen. Die Ärzte und Schwestern waren mit anderen Verwundeten beschäftigt. Da griff er nach dem nächsten Arzt, der an ihm vorbeilief und hielt ihn mit seinem unverletzten Arm fest. Mit entschlossener Stimme sagte er zu dem Arzt: »Ich bin der einzige Überlebende einer großen Familie. Wenn ich meinen Arm verliere, heiratet mich niemand und ich werde keine Kinder haben. Dann stirbt mein Name aus. Hilf mir!« Die Aktion verfehlte ihre Wirkung nicht. Der Arzt wandte sich Mordechai zu und operierte ihn. Mordechai erhielt eine Platte in die Schulter und sein Arm konnte gerettet werden. Wegen dieser schweren Verwundung war für ihn der Krieg vorbei. Allerdings durfte er nicht wieder nach Tel Aviv zurück, sondern musste zunächst zur Rehabilitation.

Abbildung 2: Vergleich der Grenzen entsprechend des Teilungsplans (1947) und der Waffenstillstandslinien (1949).

In der Rehabilitation teilte Mordechai das Zimmer mit einem jungen Mann namens Aaron, der in Jerusalem eingesetzt war und dort ebenfalls schwer verwundet wurde. Die beiden verstanden sich und kamen miteinander ins Gespräch. Als das Vertrauen gewachsen war, erzählte Mordechai ihm, dass er immer noch auf der Suche nach seinen Verwandten war, die er bisher jedoch nirgends finden konnte. Aaron wollte wissen, wie die Verwandten hießen. Mordechai antwortete: »Rozencwajg«. Da sagte Aaron, er müsste nach einem hebräischen Namen suchen. Wahrscheinlich hätten sie ihren Diasporanamen abgelegt und einen hebräischen Namen angenommen. Auf einmal stellte sich heraus, dass es sich bei dem gesuchten Verwandten um den Vater von Aaron handelte! Neben Mordechai lag Aaron Shoshany im Krankenbett, der Sohn von Mosche Rozencwajg. Mosche Rozencwajg hatte seinen deutsch-polnischen Namen in Palästina ins Hebräische übertragen und nannte sich seither »Shoshany«. So war der Zimmernachbar Mordechais Großcousin. Dank seiner Verwundung hatte Mordechai seine Verwandten gefunden, nach denen er seit zwei Jahren vergeblich auf der Suche war! Und wegen dieser schweren Verwundung wurde er in den Folgejahren nicht mehr zum Militärdienst eingezogen.

Der Krieg dauert bis Januar 1949. Sein Ergebnis waren Gebietsgewinne für Israel und Waffenstillstandsabkommen mit den arabischen Staaten (außer Irak). Der junge israelische Staat ging gefestigt aus den Kämpfen hervor. Die palästinensischen Araber erhielten jedoch entgegen des UN-Teilungsplans keinen eigenen Staat. Die ursprünglich für sie vorgesehenen Gebiete waren nun von Israel oder von Jordanien (Westjordanland, Ostjerusalem) bzw. von Ägypten besetzt (Gazastreifen).2 Zudem befanden sich rund 650.000 Araber als Flüchtlinge außerhalb Palästinas. Sie waren vor dem Krieg geflohen, wurden von den arabischen Staaten evakuiert oder von der israelischen Armee vertrieben worden. Nur wenigen dieser Flüchtlinge wurde nach dem Krieg erlaubt, in ihre Heimat zurückzukehren. Damit stellten die Juden die Mehrheit der Bevölkerung im Staat Israel.
Am 25. Januar 1949 wurden in Israel die ersten Parlamentswahlen durchgeführt. David Ben-Gurion (1886 – 1973) wurde erster Premierminister und Chaim Weizmann (1874 – 1952) erster Staatspräsident. Am 11. Mai 1949 erhielt Israel als 59. Mitglied einen Sitz bei den Vereinten Nationen. In die Geschichte der Palästinenser gingen die Ereignisse der Jahre 1948/1949 als Nakba (deutsch »Katastrophe«) ein.

Karten: https://commons.wikimedia.org/wiki/Atlas_of_Israel.

Zum ganzen Kapitel:
Angelika Timm, Die Gründung des Staates Israel, Dossier Israel, 28.03.2008, siehe: https://www.bpb.de/internationales/asien/israel/44995/gruendung-des-staates-israel (15.02.2019).
https://www.lpb-bw.de/geschichte-israels (13.01.2019).
https://www.hagalil.com/geschichte-israels/#Staatsgruendung (11.07.2020).
https://de.wikipedia.org/wiki/Israel#Geschichte (13.01.2019).

1Abb. 1: Rudi Weissenstein, 14.05.1948, Public Domain, Israel Ministry of Foreign Affairs, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Declaration_of_State_of_Israel_1948.jpg (07.08.2020).
2Abb. 2: Anon Moos, 2005, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1947-UN-Partition-Plan-1949-Armistice-Comparison.png (04.06.2020).

Autor: Thorsten Trautwein, 04.08.2020