Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 2

Kindheit in Radom (1923 – 1934)

Die Eltern von Mordechai Papirblat lebten in Radom, einer der größeren Städte in Polen, die etwa 100 km südlich der Hauptstadt Warschau liegt. 1Radom nahm seit der polnischen Unabhängigkeit eine rasante Entwicklung, die von der Regierung gefördert wurde. So entwickelte sich die Stadt zu einem regionalen Industriezentrum für Chemie, Waffen und Munition, für Telefonapparate und für die Fertigung von Schuhen. Es gab ein Gaswerk und eine Garnison. 1935 wurde die Bahnverbindung Radom – Warschau fertiggestellt, wodurch sich die Reisedauer zwischen Warschau und Krakau deutlich verkürzte. Die Bevölkerung vervielfachte sich. Hatte die Stadt 1897 noch 28.700 Einwohner, so waren es 1938 über 90.000. Etwa ein Drittel der Einwohner waren Juden.2

Abbildung 1: Radom 1930er Jahre, Zeromskiego-Straße, drittes Gebäude von rechts: jüdische Gemeinde.

Mordechai erblickte am 25. April 1923 das Licht der Welt. Er war das erste Kind seiner Eltern. Sein Vater Szlomo Papirblat3 wurde 1893 in Zwolen geboren.4 Er war Gamaschenmacher und stellte auch elegante Damenschuhe her. Szlomos Eltern und Geschwister lebten mit ihren Familien zum Großteil in Warschau. Szlomo dagegen lebte mit seiner Frau Selda in Radom, weil Selda den Krämerladen ihrer Mutter führte. Der Kaufladen befand sich im Erdgeschoss, das junge Paar wohnte im ersten Stock. Im Krämerladen gab es alles zu kaufen, was man für den täglichen Bedarf brauchte.
Mordechais Mutter Selda, geborene Huberman, wurde 1900 in Radom geboren. 5 Ihre drei Brüder waren mit ihren Familien in den 1920er Jahren nach Frankreich und in die USA ausgewandert. Die beiden Schwestern Perla und Myrjam wohnten mit ihren Familien ebenfalls in Radom. Die dritte Schwester Surale lebte mit ihrer Familie in Opatow. 6 Selda war blond und hatte blaue Augen. Seit der Heirat lernte sie Deutsch und sang ihrem Sohn beim Schlafengehen deutsche Kinderlieder vor. In der Familie mütterlicherseits gab es Bauern, Lehrer, Musiker, Intellektuelle und Schriftsteller.

Als erstgeborener Sohn sollte Mordechai der Tradition nach den Vornamen seines Großvaters väterlicherseits sowie einen zweiten Vornamen erhalten. Der Name des Vaters von Szlomo Papirblat war Pinchas. Doch Mordechai erhielt nur einen Vornamen und zwar den seines Großvaters mütterlicherseits: Mordechai. Der Grund hierfür war die besondere Achtung, die Mordechai Huberman (1851 – 1915) 7 in Radom genoss. Er wurde allgemein »Motel Melamed« genannt. »Motel« ist die jiddische Form von Mordechai und »Melamed« heißt »Lehrer«, also »Lehrer Motel«. Mordechai Huberman war Lehrer eines Cheder 8, einer religiösen Grundschule. Mordechai Huberman war unter den Juden Radoms sehr angesehen, da er arme jüdische Kinder in seinem Cheder unterrichtete, damit sie nicht auf der Straße herumlungerten. Sein weites Herz für Menschen und seine helfenden Worte stifteten Trost. So wandten sich auch Erwachsene an ihn, wenn sie Streit oder Sorgen hatten. Sein Wort zählte und man orientierte sich an ihm.

Abbildung 2: Mordechai und Bejla-Mirel Huberman, Radom, um 1910.

Eine Begebenheit aus dem Jahre 1915 veranschaulicht die Haltung Motel Melameds: Es war in den letzten Jahren des Zarenreichs. Die Lage war gespannt und es gab Gerüchte, dass es in Radom eine kommunistische Geheimorganisation gegen den Zaren gebe. Die Stadtoberen wandten sich an Russland, um mehr Sicherheitskräfte zu bekommen. Schließlich wurde eine Kavallerie-Einheit geschickt. Allerdings kam es dadurch zu einem dramatischen Vorfall. Wie gewöhnlich saßen drei jüdische Schüler einer Jeschiwa im Freien unter einem Baldachin und studierten den Talmud. Dabei diskutierten sie im Flüsterton und gestikulierten sehr. Den Sicherheitskräften des Zaren war das offensichtlich verdächtig. Sie verhafteten die drei und erhängten sie kurz darauf als abschreckendes Beispiel in aller Öffentlichkeit. Über die Juden Radoms fiel ein großer Schrecken. Niemand wagte es dort hinzugehen. Da nahm sich Motel Melamed ein Herz, hängte die drei Leichname bei Nacht ab und sorgte für ein ordentliches jüdisches Begräbnis. Für ihn war das eine der größten jüdischen Mizwot, eine religiöse Pflicht, die wichtiger sei als die Angst vor Bestrafung. In Erinnerung an und aus Respekt gegenüber Mordechai Huberman erhielt der erstgeborene Sohn von Szlomo und Selda Papirblat den Namen Mordechai. Ein zweiter Vorname wurde ihm nicht gegeben, da der Name »Mordechai« alleine stehen sollte!
Mordechai wurde acht Jahre nach dem Tod seines Großvaters geboren. So kannte er ihn nur von Erzählungen. Im Konzentrationslager Auschwitz dachte Mordechai immer wieder an seinen Großvater und an dessen gute Taten. In diesen dunklen Stunden hoffte er, dass sie und der Segen seines Großvaters ihm zu Gute kommen und er, der Enkel und Namensträger, dadurch leben möge.

In den folgenden Jahren vergrößerte sich die Familie Papirblat. In Radom wurden drei weitere Geschwister von Mordechai geboren: 1925 Chaim Leibisch, 1929 Chaja Riwa und 1931 Awraham Jizchak. 9 Auch die Geschwister der Eltern Szlomo und Selda heirateten und bekamen Kinder, Mordechais Cousinen und Cousins. Zu den Großfamilien Papirblat und Huberman gehörten über 100 Personen. 10 Sie beachteten die jüdischen Rituale und Feste, ohne zu gesetzlich zu sein. Sie waren »mittelfromm« und kleideten sich wie die Polen und Deutschen ihres sozialen Standes. Sie führten ein Leben, das von der täglichen Arbeit, von der Familie und von den jüdischen Ritualen und Festen geprägt war. Die Familien lebten in einem überwiegend jüdischen Umfeld. Untereinander sprach man jiddisch, sonst polnisch. Die Kontakte mit Polen und Deutschen waren freundlich und überwiegend geschäftlicher Natur.

Das Leben von Mordechai verlief so wie es für einen jüdischen Jungen dieser Zeit üblich war. Im Alter von drei Jahren begann für ihn der Besuch des sog. »Cheder« (deutsch »Zimmer«), der religiösen Grundschule. Im Cheder unterrichtete ein Lehrer jüdische Jungen unterschiedlichen Alters in einer Klasse. Das »Klassenzimmer«, der Cheder, befand sich entweder in einem Privathaus oder in einem Raum der jüdischen Gemeinde. In der Unterrichtssprache Jiddisch lernten die Kinder zunächst das hebräische Alphabet sowie die hebräische Schrift lesen und schreiben. Dann wurde die Tora, die fünf Bücher Moses, gelernt, später der Talmud. Lernen hieß vor allem auswendig lernen. Die Verbundenheit mit dem polnischen Staat kam dadurch zum Ausdruck, dass im Cheder an der einen Wand das polnische Staatswappen und auf der gegenüberliegenden Seite Bilder der polnischen Könige angebracht waren. Normalerweise ging der Unterricht im Cheder bis zur Bar Mizwa, doch Mordechai wechselte im Alter von sechs Jahren auf eine liberale jüdische Schule, in der ein größerer Wert auf Allgemeinbildung gelegt wurde.

In der Nachbarschaft der Papirblats wohnten jüdische und deutsche Familien, die ebenfalls Geschäfte besaßen. Mordechais Familie konnte von den Erträgen des Geschäfts und vom Verdienst seines Vaters zunächst leben. Im Laufe der 1930er Jahre wurde das Leben für Juden jedoch schwerer. Das hing mit Gesetzen zusammen, die nicht speziell gegen Juden gerichtet waren, diese aber besonders trafen. Da jüdische Geschäfte nicht nur am Sonntag geschlossen waren, wie die christlichen Geschäfte, sondern auch am halben Freitag und den ganzen Samstag über (Schabbat), führte eine Steuererhöhung dazu, dass der Verdienst der Juden stärker beeinträchtigt wurde als der von Christen. Ein Gesetz, dass das Geschäft vom Wohnhaus getrennt sein musste, traf die jüdischen Geschäftsleute besonders hart, da die zusätzlichen Mietkosten stark zu Buche schlugen. Auch Mordechais Familie musste daraufhin eine neue Wohnung mieten. Die Lage wurde allmählich unhaltbar. Mordechai erlebte, wie immer mehr Juden wegzogen und kleine Gewerbe die Stadt verließen. Viele von ihnen wanderten aus. In die ehemals von Juden bewohnten Häuser zogen Polen und Deutsche ein, die ihre Geschäfte nur am Sonntag schlossen und so Kundschaft von den jüdischen Geschäften abzogen. Auf der einen Seite hatte die deutsche Familie Kindt eine Firma für Hausbau, auf der anderen Seite wohnte die deutsche Familie Hampel. Ihre Kohle kauften beide Familien bei den Papirblats. Das Verhältnis war insgesamt gut. Schließlich verließ auch Mordechais Familie Radom. Sie zogen nach Warschau. Mordechai war 10 Jahre alt.

1Abb. 1: Unbekannter Autor, Postkarte aus den 1930er Jahren, Public Domain; http://serwer1716421.home.pl/index.php/122.html (10.08.2019).
2http://lebendom.com/article/radom (23.06.2019); vgl. http://serwer1716421.home.pl/index.php/home-108.html (18.01.2020).
3Der Name »Papirblat« sei den Vorfahren gegeben worden, weil sie Journalisten gewesen seien, die auf einem Blatt Papier Informationen und Nachrichten festgehalten und an andere weitergegeben hätten; Auskunft Mordechai Papirblat. Es könnte sich auch um Schreiber (Sofer) gehandelt haben; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Sofer (07.04.2020).
4Szlomo war das älteste Kind seiner Eltern Pinchas und Cypra Papirblat. Er hatte zwei Brüder, Israel und Symcha, und zwei Schwestern, Rajca und Chaja.
5Oder 1897. Seldas Eltern waren Mordechai Huberman (1851 – 1915) und Bejla-Mirel (1856 – 1939), geb. Rozencwajg. Selda hatte drei Brüder und drei Schwestern. Der Name Huberman ging auf den Großvater von Selda zurück: Chaim Eliezer (geboren um 1800) war in einer jüdischen Familie aufgewachsen, die auf dem Gut eines Deutschen gearbeitet hatte. Der deutsche Großbauer hieß Huberman. Als er Chaim zu seinem Bevollmächtigten gemacht hatte, verlieh er Chaim und seiner Familie – wie es damals üblich war – seinen eigenen Namen Huberman; damit wurde ausgedrückt, dass Chaim »von den Hubermans« war; vgl. http://www.hubermans.net/mordechai_huberman_Family/mordechai_huberman_family.htm (12.08.2019).
6Es muss sich dabei um einen kleinen Ort in der Nähe Radoms handeln.
7Abb. 2: Foto, um 1910, Familienbesitz; http://www.hubermans.net/mordechai_huberman_Family/mordechai_huberman_family.htm (12.08.2019).
8Hebräisch Cheder, jiddisch Chejder, deutsch Zimmer; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Cheder (18.08.2019).
9In den Quellen begegnen unterschiedliche Schreibweisen der Namen, da sie aus dem Jiddischen bzw. Hebräischen verschieden transkribiert werden. Die in den Quellen erkennbare Unsicherheit bei Jahreszahlen (Geburts-, Sterbejahre und Datierung bestimmter Ereignisse) kommt daher, dass keine amtlichen Dokumente aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg existieren. Die Daten stammen überwiegend aus der Erinnerung Mordechai Papirblats.
10Der Violinist Bronislaw Huberman (1882 – 1947) war der Cousin der Mutter Selda; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bronis%C5%82aw_Huberman (30.07.2019), http://www.hubermans.net/mordechai_huberman_Family/mordechai_huberman_family.htm (13.08.2019).

Autor: Thorsten Trautwein, 20.05.2020