Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 3

Schöne Jahre in Warschau (1934 – 1939)

Als Hauptstadt der jungen Zweiten Republik war Warschau eine aufstrebende Weltstadt, die einen enormen Bauboom erlebte. Die Regierungs- und Botschaftsgebäude wurden größtenteils neu errichtet. Die Stadt hatte einen Flughafen mit nationalen und internationalen Verbindungen. Das Straßenbahn- und Busnetz wurde stetig ausgebaut, neue Straßenzüge in den Außenbezirken entstanden. Das kulturelle Leben blühte, besonders auch das jüdische Leben.1

Abbildung 1: Jüdischer Hinterhof, Warschau, vor 1939.

Die Familie Papirblat zog Anfang 1934 in die Hauptstadt Warschau. Dort ließen sie sich in einem jüdisch geprägten Viertel in der Innenstadt nieder, wo auch Szlomos Vater und Geschwister mit ihren Familien lebten.2 Im Kreis der Verwandten wurden sie gut aufgenommen. Im Erdgeschoss der Häuser befanden sich Restaurants, Cafés und Geschäfte. In den oberen Etagen waren die Wohnungen. Mordechais Familie wohnte im obersten Stockwerk in der Mirowska Nr. 7, unten befand sich ein Friseur-Geschäft. Mordechai und seine Geschwister besuchten die jüdische Schule.

Szlomos Brüder und Schwager waren alle in der Leder- bzw. Schuhbranche tätig. Es gab viel Arbeit. Szlomo arbeitete in der etwa 300 Meter entfernten Krochmalna Nr. 17 bei seinem Bruder Israel Papirblat, der vor allem Gamaschen anfertigte. Sie verarbeiteten gutes Leder, Samt und Lack.3 Mordechais Vater Szlomo stellte hochwertige Damenschuhe her. Besonders gut liefen seine vornehmen Sandalen für den Sommer.

Szlomos Schwager Chaskel Grzebien hatte in der Krochmalna Nr. 14/58 ein Schuhgeschäft. Im oberen Stockwerk wohnten auch Mordechais Großeltern, Pinchas und Cypa Papirblat. Der Großvater von Mordechai belieferte große und exklusive Restaurants mit hochklassiger Ware und mit Delikatessen. Zur Qualitätskontrolle für Eier hatte er zum Beispiel einen besonderen Apparat mit einem Vergrößerungsglas, das Mordechai sehr beeindruckte. Der kühle Keller des Hauses war gefüllt mit allerlei Lebensmitteln. Ein anderer Onkel von Mordechai, Symcha Papirblat, war Schneider. Er war alleinstehend.4 Alle anderen Onkel und Tanten waren verheiratet und hatten mehrere Kinder, sodass Mordechai und seine Geschwister auch in Warschau Cousinen und Cousins hatten. Durch die Bahnlinie Warschau – Radom blieb der Kontakt zur Familie der Mutter erhalten. In den Schulferien im Juli und August besuchten sie hin und wieder die Verwandten in Radom.

Abbildung 2: Warschau, Krochmalna Nr. 23, 1934.

Ein Höhepunkt im Leben Mordechais war seine Bar Mizwa im Jahr 1936. Da er der älteste Enkel seiner Großeltern war, war seine Bar Mizwa die erste und damit ein besonderer Festtag für die ganze Großfamilie. Im Alter von 13 Jahren wurde er religionsmündig. Von nun an zählte er in der Synagoge zu den erwachsenen Männern und war für die Einhaltung der religiösen Pflichten selbst verantwortlich. Zur Vorbereitung auf den Gottesdienst in der Synagoge musste er den Wochenabschnitt auswendig lernen und richtig vortragen können. Sein Vater brachte ihn zur Vorbereitung immer wieder zum Rabbi, um die Fortschritte beim Lernen zu sehen. Mordechai war aufgeregt, doch alles klappte gut! Nach dem Synagogengottesdienst ging es nach Hause, wo mit der ganzen Familie groß gefeiert wurde. Man sang Lieder, Mordechai bekam viele Geschenke und es gab ein reichhaltiges Festessen, zu dem sein Großvater gebratene Gänse und andere seiner Delikatessen beisteuerte.

Im Dezember desselben Jahres wurde Zipa Scheindl, Mordechais jüngste Schwester, in Warschau geboren. Sie waren nun fünf Geschwister. Die Familie führte insgesamt ein gutes Leben, das von Arbeit, dem Leben in der Großfamilie und vom jüdischen Festjahr geprägt war. Den Alltag der Kinder bestimmte die Schule. Mordechai besuchte eine liberale jüdische Schule und zusätzlich die Jeschiwa, eine Talmudschule. Es war seinen Eltern wichtig, dass er eine solide jüdische und Allgemeinbildung erfuhr.

1https://de.wikipedia.org/wiki/Warschau#Zweite_Republik (05.08.2019).
2Abb. 1: Foto, Willem van de Poll, vor 1939, Public Domain, https://photographyandvision.com/2017/10/12/mondays-photography-inspiration-willem-van-de-poll/ (05.01.2020).
3Abb. 2: Foto 1934, unbekannter Autor, Public Domain: https://www.pinterest.de/pin/565694403188923090/ (10.08.2019).
4Eine weitere Schwester von Szlomo, Rajca Wajngarten (geb. Papirblat), lebte mit ihrer Familie im Dorf Jablonow bei Zwolen. Ihre Familie betrieb dort eine mittelgroße Landwirtschaft.

Autor: Thorsten Trautwein, 20.05.2020