Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 31.2

Hintergrund: Palästina – Land, Bewohner, Mandatsregierung

Palästina war am Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts weder ein einheitlich geografisch-politisch definiertes Land noch lebte dort eine homogene Bevölkerung mit einer gemeinsamen Identität, Kultur oder Religion. Bis zum Ersten Weltkrieg war das Gebiet ein Teil des Osmanischen Reichs mit unterschiedlichen Verwaltungsbezügen (z.B. Damaskus, Akko, Tripolis, Sidon). Die Mischbevölkerung bestand aus Arabern (Muslime und Christen), Juden, Aramäern, Samaritanern, Armeniern, Tscherkessen, Drusen, Beduinen und anderen. Zudem teilten sich die größeren Bevölkerungsgruppen in weitere Untergruppen.

Der Brite James Parkes beschreibt die Situation »der Araber« 1940 folgendermaßen:
»Soweit es die Einwohner betrifft, gab es 1919 keine palästinensische Nationalität wie beispielsweise im Sinne einer portugiesischen Nationalität ... Die gegenwärtigen Grenzen Palästinas, die für einen Engländer oder einen Juden mehr oder weniger vertraut mit denen auf Landkarten des Palästina aus biblischen Tagen sind, wurden erst nach der Konferenz von Versailles festgelegt. Das Land war Teil zweier türkischer Provinzen und seine Einwohner waren Teil der ausgedehnten arabischen Sektion des Osmanischen Reiches, die sich vom Mittelmeer bis nach Persien erstreckte. Sie dachten von sich selbst nicht als Palästinenser, sondern als Syrer, die Teil der moslemischen Welt und Teil des arabischen Volkes waren.
Folglich identifizierten sie ihre Situation einerseits mit der anderer arabischer Staaten des Nahen Ostens. Andererseits waren Moslems der ganzen Welt an ihren Umständen interessiert, da Jerusalem die drittheiligste Stadt der moslemischen Welt ist.
1922 wurde die erste Volkszählung in diesem Gebiet vorgenommen. Die arabischen Einwohner betrugen etwa 664.000, davon waren 73.000 Christen. Mehr als die Hälfte der moslemischen Araber waren Bauern, die etwa die Hälfte des Bodens von Palästina bebauten und dies mit Methoden, die sich seit biblischen Tagen nur wenig geändert hatten. Der Hauptgrund für diese Situation liegt sowohl in der Armut des Bodens wie in derjenigen der Bauern und beide Faktoren sind miteinander verbunden und halten die erfolglosen Einwohner in einem Status von ständiger Verschuldung. Der Araber war weder faul noch sorglos. Sein eisenbeschlagener Holzpflug und seine Sichel für die Ernte waren die effektivsten Geräte, die innerhalb seiner Möglichkeiten lagen. Verbesserter Anbau und die Ausdehnung der bebauten Gebiete waren nur mit Kunstdünger und Bewässerung möglich. Beides konnte sich der Landwirt nicht leisten. Ein großer Teil des Landes gehörte einer kleinen Anzahl von Grundbesitzern, von denen manche außerhalb des Landes lebten und an den Bedingungen ihrer Pächter ganz und gar uninteressiert waren. Ein weiterer Großteil des Landes wurde kommunal gehalten. Doch selbst wenn ein Dorf sein eigenes Land besaß, gab es keinen Anreiz für den Einzelnen, die Erde seines Landes ertragreicher zu kultivieren, denn nach ein paar Ernten wechselte es den Besitzer.
Ein Zehntel der moslemischen Araber waren immer noch wandernde Hirten, die in Stämmen lebten und ihre Herden auf großen, jedoch nur vage abgegrenzten Weiden grasen ließen. Es gab kein wirklich genaues Grundbuch. Dies war eine Situation, die in den frühen Jahren der britischen Administration beträchtliche Schwierigkeiten hervorrief. Bis jetzt konnte dieser Situation noch nicht vollständig abgeholfen werden.
Die christlichen Araber lebten mehr in der Stadt und stellten einen hohen Anteil an Berufstätigen, Beamten und Handwerkern. Ein reicher Moslem war meistens unabänderlich ein Landbesitzer. Ein reicher Christ war oft ein Kaufmann oder Beamter. Das städtische Proletariat war klein, denn große Städte gab es nur wenige und das kommerzielle oder industrielle Leben war extrem rückständig.«1

Die osmanischen Sultane in Istanbul und die regionalen Herren ließen die jüdischen Einwanderungsschübe (Alijot) mal mehr, mal weniger zu und verkauften den Juden Land, auf dem sie sich niederlassen und das sie bewirtschaften konnten. Die Mehrheit der Einwanderer zog jedoch in Städte bzw. trug zu deren Entstehung bei. Da die Lebensbedingungen im Land jedoch alles andere als einfach waren, folgten auf größere Einwanderungswellen regelmäßig auch wieder Auswanderungsbewegungen. Mehr und mehr bildeten sich in der Diaspora, also außerhalb von Erez Israel, jüdische Strukturen und Organisationen heraus, die die jüdische Einwanderung systematisch vorbereiteten, organisierten und begleiteten (vgl. z.B. Hachschara, Bricha; Kap. 26 und 27). Auch in Palästina bildeten sich allmählich jüdische politische Strukturen aus. Am 23. August 1903 tagte erstmals die Versammlung des Jischuw, das ist die jüdische Bevölkerung in Palästina.2 Interne Unstimmigkeiten und Widerstände seitens der osmanischen Behörden verhinderten jedoch eine einheitliche jüdisch-politische Organisationsstruktur im Land.

Die Situation änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg und der Niederlage des Osmanischen Reichs. Britische Truppen eroberten 1917/1918 Palästina. Die Region hatte für das britische Empire eine erhebliche strategische und wirtschaftliche Bedeutung, da sie auf halber Strecke zwischen Indien und der britischen Insel lag. Der Schiffsverkehr durch den Suez-Kanal, an dem die Briten die Aktienmehrheit besaßen, sparte in erheblichem Maße Zeit und Geld. Die Briten hatten die Herrschaft über Ägypten und Abkommen mit den Fürstentümern am Persischen Golf geschlossen. Anfang der 1920er Jahre erhielt Großbritannien schließlich das Mandat des Völkerbunds über Palästina in mehreren Schritten.

James Parkes beschreibt das britische Interesse 1940 folgendermaßen:
»Der Feldzug im Nahen Osten während des Ersten Weltkrieges von 1914 – 1918 war eine unvermeidliche Entwicklung der Strategie der Alliierten. Es war unmöglich den Türken, die mit den Deutschen verbündet waren, zu erlauben, die lebenswichtigen Verbindungen des Britischen Reiches durch ihre Kontrolle über die Ostseite des Suezkanals und die Ostküste des Roten Meeres zu bedrohen. Deshalb rückte Allenby im Herbst 1917 nach Palästina vor. Im Dezember desselben Jahres drang er in Jerusalem ein. Die arabischen Wüstenbewohner, die von Emir Feisal mit Hilfe Lawrences von Arabien geführt wurden, drängten unterdessen die Türken nach Norden und drangen im Herbst 1918 in Damaskus ein.
Nach dem [Ersten Welt-] Krieg wurde Palästina sogar noch wichtiger. Zum Schutz der Briten war weiterhin eine Kontrolle über das Ostufer des [Suez-] Kanals erforderlich. Die Erschließung der Luftverbindungen des britischen Reiches machten Palästina zu einem potenziellen Verbindungsstück für die Flugstrecken nach Indien und in den Fernen Osten. Die Wüstenstraße nach Bagdad konnte vom Land aus erreicht werden. Und ein Ende der Ölpipeline, die ihren Ursprung im irakischen Kirkuk hatte, mündete in den palästinensischen Hafen Haifa, der außerdem einer der besten Marineposten im östlichen Mittelmeer war.
So sieht das grundsätzliche Interesse der Briten an diesem Land aus. Es ist analog zum Interesse, das in der Vergangenheit zur britischen Kontrolle über Gibraltar, Malta oder Singapur geführt hat. Es ist ein lebenswichtiges Glied in der Kette eines weltweiten Reiches. Sein Schicksal kann Großbritannien nicht gleichgültig sein. In früheren Tagen hätte Großbritannien das Land nach der Eroberung einfach annektiert. Aufgrund der heutigen Umstände erhielt Großbritannien es nach dem [Ersten Welt-] Krieg von der Liga der Nationen als Mandat.«3

Abbildung 1: Britisches Mandat Palästina; 1920.

Das britische Mandatsgebiet Palästina umfasste das Gebiet des heutigen Israel, Palästina und Jordanien (siehe Abb. 71).4 Mit der Übernahme des Mandats durch die Briten kam auch wieder Bewegung in die politische Arbeit des Jischuw. 1920 wurde ein jüdischer Nationalrat gewählt. Seit 1928 anerkannten die Briten die jüdische Selbstverwaltung.5 Den Juden war jedoch nur das Siedeln im Gebiet westlich des Jordans gestattet. 1922 wurde östlich des Jordans das Emirat Transjordanien errichtet und im Folgejahr Abdallah al-Hussain als Emir anerkannt. 1946 erreichte Jordanien seine Selbstständigkeit. Damit schufen die Briten Palästina als Gebiet zwischen Mittelmeer, Jordan und Rotem Meer. Es war schlicht das Gebiet, das zwischen Ägypten und Transjordanien übrigblieb. Die Nordgrenze bildete der Libanon, dessen Grenzen von der französischen Mandatsmacht seit den 1920er Jahren gebildet wurden. Der Libanon erhielt 1926 als Republik eine Teilselbstständigkeit und erklärte 1943 seine Unabhängigkeit.6
Am Aufbau politischer arabischer Strukturen westlich des Jordans zeigten die Briten kein Interesse. Zusätzlich verhindert wurden sie durch sich widerstreitende arabische Interessen; z.B. Traditionalismus, Modernismus, Urbanisierung, Panarabismus, palästinensischer Nationalismus, Kooperation mit den Briten.

Den Briten kam mit dem Mandat des Völkerbunds eine schwere Aufgabe zu, die letztlich bis heute ungelöst ist und eine Ursache vielfältiger Konflikte darstellt. Die britische Mandatsregierung musste einerseits die Interessen des Empire verfolgen und andererseits dafür sorgen, dass die Juden eine »nationale Heimstätte« in Palästina erhielten (sog. Balfour-Deklaration, 1917)7 und war zudem dafür verantwortlich, dass die Rechte der nichtjüdischen Bevölkerung gewahrt blieben. Dabei machten sie in alle Richtungen Versprechungen, die sich jedoch gegenseitig widersprachen.

Abbildung 2: Teilungsvorschlag Palästinas gemäß der Peel-Kommission, 1937

Im Zuge der jüdischen Einwanderung (Alijot) aus Europa im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erlebte das Land einen wirtschaftlichen Aufschwung, der wiederum zu einem starken Zuzug von Arabern aus den Nachbarländern führte.8 Die Araber sahen, wie immer mehr Juden ins Land kamen, Siedlungen und Kibbuzim gründeten sowie ihre Strukturen ausbauten. Gleichzeitig wurden die arabischen Forderungen nach mehr Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit, die ihnen von den Briten versprochen worden waren, missachtet. So kam es 1920, 1921 und 1929 zu Unruhen, die 1936 zum ersten Aufstand der Araber gegen Juden und Briten führten (s.u.). Als Reaktion auf diesen arabischen Aufstand setzte die britische Mandatsregierung eine Untersuchungskommission ein (Vorsitz: William Peel), die schließlich die Teilung des Landes empfahl, da der Konflikt »zwischen zwei nationalen Gemeinschaften innerhalb der engen Grenzen eines kleinen Landes« nicht anders lösbar sei.9 Dieser Plan war der erste Vorschlag für eine Teilung des Landes in ein kleineres jüdisches und in ein größeres arabisches Gebiet. Jerusalem, einschließlich eines schmalen Streifens bis zum Mittelmeer (Jaffa), sollte unter britischem Mandat bleiben.10 Der sog. Peel-Plan sah in den jeweiligen Gebieten eine homogene arabische bzw. jüdische Bevölkerung vor, was die Umsiedlung der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe notwendig gemacht hätte. Die arabische Seite (außer Abdallah I. von Transjordanien) lehnte den Teilungsplan ab, die jüdische Seite stimmte nach einigem Zögern zu. Damit war der Plan gescheitert.11 Da keine andere Lösung gefunden wurde, lehnten die Briten die weitere Umsetzung der Balfour-Deklaration ab und erklärten sie 1939 als verwirklicht (sog. Weißbuch12). Sie begrenzten die jüdische Einwanderung massiv. In den folgenden fünf Jahren – es war die Zeit des Zweiten Weltkriegs – durften insgesamt nur noch maximal 75.000 Juden in Palästina einwandern. Die Briten hielten auch dann noch an dieser strengen Einwanderungspolitik fest, als der Holocaust seit 1941 bekannt wurde. Sie wollten auf diese Weise den Arabern entgegenkommen und diese an sich binden, damit sie sich nicht mit dem Deutschen Reich verbündeten. Die deutsche Orientpolitik unterstützte zu dieser Zeit längst die arabischen Nationalisten in ihrem Kampf gegen Briten und Juden.

Karten: https://commons.wikimedia.org/wiki/Atlas_of_Israel.

Zum ganzen Kapitel:
WolfgangTuvia Friling, Shoah und Einwanderung, 27.03.2008, Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier Israel; https://www.bpb.de/internationales/asien/israel/44987/shoah-und-einwanderung (11.06.2020). Thomas Philipp, Die Palästinensische Gesellschaft zu Zeiten des Britischen Mandats, Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier Israel, 28.03.2008; https://www.bpb.de/internationales/asien/israel/44991/gesellschaft-palaestinas (11.06.2020). Angelika Timm, Die Gründung des Staates Israel, Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier Israel, 28.03.2008; https://www.bpb.de/internationales/asien/israel/44995/gruendung-des-staates-israel (03.05.2020). Michael Wolffsohn, Die Briten im Heiligen Land. 20. Jahrhundert, Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier Israel; https://www.bpb.de/internationales/asien/israel/44971/briten-im-heiligen-land (11.06.2020). Kim Wünschmann, Palästina als Zufluchtsort der europäischen Juden bis 1945, 16.9.2014, Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier Gerettete Geschichten: Elf jüdische Familien im 20. Jhd.; https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/gerettete-geschichten/149158/palaestina-als-zufluchtsort-der-europaeischen-juden (11.06.2020). https://www.hagalil.com/der-weg-zum-staat-israel/ (11.06.2020). https://www.hagalil.com/eretz-israel/ (11.06.2020). https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkerbundsmandat_f%C3%BCr_Pal%C3%A4stina (11.06.2020). https://de.wikipedia.org/wiki/Pal%C3%A4stina_(Region) (11.06.2020). http://www.zionismus.info/ (11.06.2020).

1James Parkes, Palestine, Oxford Pamphlets on World Affairs No. 31, Oxford u.a. 1940, Nachdruck 1941; Deutsch in Auszügen ohne Seitenangaben (05.04.2002); http://israel.zionismus.info/palaestina/01.htm (11.07.2020).
2Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jischuv (03.05.2020).
3James Parkes, Palestine, Oxford Pamphlets on World Affairs No. 31, Oxford u.a. 1940, Nachdruck 1941; Deutsch in Auszügen ohne Seitenangaben (05.04.2002); http://israel.zionismus.info/palaestina/01.htm (11.07.2020); [Ergänzung Trautwein].
4Abb. 1: Tzzzpfff, ohne Jahr, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Palaestina1920.png (04.06.2020).
5Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jewish_Agency_for_Israel (03.05.2020).
6Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Libanon#Entstehung_des_Staates (13.06.2020).
7Juden dürfen auf ehemaligem osmanischem Staatsland, das der Jüdische Nationalfonds der britischen Mandatsregierung abkauft, westlich des Jordans siedeln; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Israel#Geschichte (12.08.2019).
8In Palästina (westlich des Jordans) lebten 1918: 573.000 Araber (davon ca. 10% Christen), 66.000 Juden; 1936: 955.000 Araber (davon ca. 12% Christen), 370.000 Juden; vgl. Thomas Philipp, Die Palästinensische Gesellschaft zu Zeiten des Britischen Mandats, Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier Israel, 28.03.2008; https://www.bpb.de/internationales/asien/israel/44991/gesellschaft-palaestinas (11.06.2020).
9Zitat aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Peel-Kommission; Original vgl. https://www.jewishvirtuallibrary.org/text-of-the-peel-commission-report (04.06.2020).
10Abb. 2: Ynhockey, 2006, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Peel_map_pd.png (11.06.2020). Siehe eine Karte von 30.05.1940 mit den jüdischen Siedlungen in Palästina: http://israel.zionismus.info/palaestina/map.htm (11.06.2020).
11Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Peel-Kommission (04.06.2020).
12Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Wei%C3%9Fbuch_von_1939 (11.06.2020).

Autor: Thorsten Trautwein, 07.08.2020