Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 42

Beginn einer eigenen Familie – »Papirblat« lebt

Im Jahr 1953 wurde Mordechai 30 Jahre alt. Er wohnte in einer kleinen Wohnung, hatte eine sichere Arbeitsstelle, die ihm gut gefiel und sogar seine Verwandten gefunden, mit denen er seither eine enge Beziehung pflegte. Auch lebte er gerne in Tel Aviv. Allerdings vermisste er eines: Eine Frau und eine eigene Familie. Doch sollte auch das sich ändern.
1953 zogen wieder einmal Neueinwanderer in seiner Nachbarschaft ein. Da sie aus Polen stammten, interessierten sie ihn besonders; vor allem eine junge Frau erweckte seine Neugier. Er sah sie immer wieder, bis er eines Tages seinen Mut zusammennahm und sie ansprach. Ihr Name war Sima Goldfarb. 1952 war sie mit ihrem Vater nach Israel gekommen. Aus den Gesprächen wurde mehr und sie heirateten 1954. Mordechai war 31 Jahre alt, Sima 24 Jahre.1

Abbildung 1: Sima und Mordechai vor ihrer Hochzeit; 1954.

Auch Sima hatte eine schwere Geschichte, über die sie weder mit ihren Söhnen noch mit anderen Menschen sprach. Wenn sie über ihre Vergangenheit gefragt wurde, hat sie abgewunken, ohne etwas zu sagen. Zu tief saß der Schmerz. Auch ihrem Mann gegenüber genügten wenige Worte. Die beiden haben ihr jeweiliges Leid auch ohne Worte verstanden, geteilt und getragen. Selten hat sie ihm gegenüber mehr von ihrer Geschichte erzählt.2
Geboren wurde Sima, geborene Goldfarb, 1930. Sie stammte aus einem Dorf in der Gegend von Lublin in Polen. Sie hatte mehrere Brüder und Schwestern. Als die deutsche Wehrmacht 1939 in Richtung Lublin vorstieß, floh die Familie nach Russland. Sima war damals ein Kind von neun Jahren. Auf der Flucht starben ihre Mutter und die Geschwister an einer schweren Durchfallerkrankung. Hinter der russischen Grenze bestiegen Sima und ihr Vater einen Zug, um weiter in Richtung Osten zu gelangen. Als der Zug in Taschkent anhielt, schickte ihr Vater sie nach draußen, um Wasser zu holen. Doch plötzlich fuhr der Zug weiter. Der Vater befand sich im Zug und Sima stand alleine an einem fremden Bahnhof, verstand die Sprache nicht und wusste nicht, wie es weitergehen sollte.

Abbildung 2: Sima und Mordechai Papirblat, frühe Ehejahre.

Tagelang lief sie umher und hatte permanent Hunger. Als sie sich etwas zu essen »organisieren« wollte, wurde sie von der Polizei aufgegriffen. Von der Polizeistation brachte man das Mädchen in ein Waisenhaus. Über die Jahre im Waisenhaus hat sie nie auch nur ein einziges Wort gesprochen. Als der Krieg 1945 zu Ende war, stand eines Tages auf einmal ihr Vater völlig unvermittelt im Waisenhaus. Sima war mittlerweile 15 Jahre alt. Was müssen diese sechs Jahre auch für ihn bedeutet haben? Schuldvorwürfe, Sorgen und Ängste. Vater und Tochter kehrten nach Polen zurück, doch konnten sie in ihrer alten Heimat nicht mehr Fuß fassen. 1952 wanderten sie gemeinsam nach Israel aus, wo sie im folgenden Jahr Mordechai kennenlernte und 1954 heiratete.

1955 wurde der erste Sohn Shlomo geboren, der entsprechend der jüdischen Tradition den Namen seines Großvaters, des Vaters von Mordechai, erhielt. 1961, sechs Jahre später, wurde Zvi, der zweite Sohn, geboren. Die Söhne wuchsen heran, besuchten die Schule, gingen zum Militär, studierten, heirateten und bekamen Kinder. Mordechai hat heute drei Enkel – Lior, Adi und Schir – sowie bisher zwei Urenkel. Für Mordechai ist es immer wieder ein Wunder, dass er nach allem, was er durchgemacht hat und so oft dem Tode gegenübergestanden hat, zwei Söhne bekam, die wiederum Kinder haben, die auch wieder Kinder bekommen! Mordechai betont immer wieder, dass seine beiden Söhne das wichtigste sind, das er im Leben erreicht hat. Auch sagt er: »Meine Nachkommen, sind meine größte Rache an den Nazis. Eine Familiendynastie und ihr Name wurden noch nicht ausgerottet.«

Abbildung 3: Vier Generationen Papirblat; Mordechai, Shlomo, Lior, Adam (v.l.n.r.).
Abbildung 4: Tag der Beschneidung des Urenkels Adam.

Shlomo und Zvi, beschreiben ihren Vater als sehr fürsorglich und tolerant. Er habe ihnen als Kinder abends liebevoll mit einem Kuss auf die Stirn gute Nacht gesagt. Sie beeindrucke sein pragmatischer Blick aufs Leben, sein Humor und Optimismus. Bis ins hohe Alter hat er einen sehr wachen Geist, auch wenn sein Gedächtnis seit einem Schlaganfall nachlässt. Er lehrte seine Söhne das zu tun, was heute dran ist, Menschen zu helfen und Gutes zu tun. Alles Eigenschaften, die ihm geholfen haben zu überleben und die das Leben lebenswert machen.

Mordechais Nachfahren tragen den Namen »Papirblat« mit Stolz und im Andenken an ihre Vorfahren, die ausgelöscht wurden. Sie sind die einzigen einer ehemals großen Familie, die den Namen Papirblat in die Zukunft tragen. Mit ihnen lebt »Papirblat« weiter!
Der Name »Papirblat« hat für Mordechai und für seine Nachkommen eine wichtige, doppelte Bedeutung. Zum einen steht der Name für die Familien in Polen, die aufgrund des nationalsozialistischen Rassenwahns ausgelöscht wurden. Mordechai sagt darum »Mein Name ist ein Denkmal«. Er erinnert an meine Eltern, Geschwister und Verwandten. An eine ehemals große Familie in Polen. Der Name »Papirblat« hat jedoch eine weitere Bedeutung, die für die Familie wichtig ist. Der Name erzählt etwas über die Vorfahren. Sie waren Schreiber, Menschen, die mit einem Blatt Papier charakterisiert werden konnten. Mit einem Blatt und einem Stift wurden Informationen und Neuigkeiten aufgeschrieben und für die Erinnerung festgehalten. Auf einem Blatt Papier können diese Informationen weitergegeben und verbreitet werden. Der Vater von Mordechais Großvater soll Journalist gewesen sein. Mordechai selbst hatte schon immer eine Vorliebe für Zeitungen und war selbst jahrzehntelang bei der Zeitung beschäftigt. Sein ältester Sohn, Shlomo, ist ebenfalls Journalist geworden, der als Auslandskorrespondent bei der israelischen Zeitung Haaretz tätig ist. So wird nicht nur der Name, sondern auch seine Bedeutung von Generation zu Generation weitergetragen.

Sima starb 2012 im Alter von 82 Jahren. In den letzten zehn Jahren ihres Lebens litt sie an Alzheimer. Sieben Jahre lang wurde sie von ihrer Familie zuhause umsorgt, bis es nicht mehr ging und sie in ein Pflegeheim gebracht wurde.

1Abb. 1: Foto von 1954, Familienbesitz Papirblat.
2Abb. 2-4: Fotos aus Familienbesitz Papirblat.

Autor: Thorsten Trautwein, 04.08.2020