Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 17.1

SS-Arbeitslager Neu-Dachs bei Jaworzno

Mordechai erreicht das Arbeitslager Neu-Dachs
Die mit 400 Häftlingen vollgestopften Lastwagen verließen das Stammlager von Auschwitz. Stehend waren die völlig erschöpften Männer dem kalten Novemberwind ausgesetzt. Mordechai hatte versucht herauszuhören, wohin sie gebracht werden sollten. Mehrfach meinte er den Namen »Neu-Dachs« vernommen zu haben. Doch hatte er diesen noch nie gehört und konnte sich nichts darunter vorstellen.
An den Schildern erkannten die Häftlinge, dass sie über Chrzanow nach Jaworzno fuhren, eine Kleinstadt mit ca. 10.000 Einwohnern.1 Die Gegend war von Landwirtschaft, aber auch von Industrie, vor allem von Bergbau, geprägt. Nach rund 30 km Fahrt erreichten sie das SS-Arbeitslager Neu-Dachs, ein Nebenlager des KZ Auschwitz, wo sie von den LKWs getrieben wurden. Es folgte ein Appell mit dem üblichen Geschrei und den gewohnten Schikanen. Anschließend wurden sie in Baracken verteilt. Mordechai kam in Block 10. Er war hierher versetzt worden, um »endlich« zu sterben – »Tod durch Arbeit«. Der zweite Tag ohne Essen und Trinken verging.

Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 302 – 307.

Abbildung 1: Das KZ Auschwitz und seine Nebenlager.

Mordechai Papirblat sollte 14 Monate im Arbeitslager Neu-Dachs bleiben. So lange, wie in keinem Ghetto oder Lager vorher. Überhaupt war er, seit der Krieg sein Leben zerstört hatte, noch nie so lange an einem einzigen Ort gewesen! Doch wusste er das bei seiner Ankunft noch nicht. Ohnehin konnte er an jedem Tag im Lager nur den nächsten kleinen Schritt überblicken. Planen war unmöglich. Wohin war er gebracht worden?

Mordechai Papirblat nennt in seinem Buch zahlreiche Personen aus Neu-Dachs mit Namen. Teilweise können diese mit anderen Quellen verifiziert werden, teilweise verwechselt er Personen und Namen, bei einzelnen Namen irrt er sich. Siehe dazu die entsprechenden Anmerkungen im Buch und besonders das Personenregister mit bibliografischen Angaben.

Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 305 – 404.

Hintergrund zum massiven Auf- und Ausbau der Arbeitslager
Im Laufe des Jahres 1943 hatte sich die militärische Lage zu Ungunsten Deutschlands verändert: Im Osten war der Vorstoß der Wehrmacht bereits im Herbst 1942 ins Stocken geraten, dann hatte die Wehrmacht wichtige Gefechte verloren (z.B. 2. Februar 1943 Stalingrad). Als die Alliierten am 10. Juli 1943 auf Sizilien landeten, war Hitler gezwungen Militärverbände von der Ostfront abzuziehen, worauf die Rote Armee allmählich mit der Gegenoffensive begann. Der deutsche Rückzug erfolgte nach dem Prinzip »verbrannte Erde«. Heinrich Himmler befahl SS-Obergruppenführer Hans-Adolf Prützmann am 7. September 1943 »… daß bei der Räumung von Gebietsteilen in der Ukraine kein Mensch, kein Vieh, kein Zentner Getreide, keine Eisenbahnschiene zurückbleiben; daß kein Haus stehen bleibt, kein Bergwerk vorhanden ist, das nicht für Jahre gestört ist, kein Brunnen vorhanden ist, der nicht vergiftet ist. Der Gegner muß wirklich ein total verbranntes und zerstörtes Land vorfinden.«2
Da aufgrund des deutschen Rückzugs keine Kriegsgefangenen mehr zur Zwangsarbeit verschleppt werden konnten und immer mehr deutsche Männer in den Krieg mussten, der Unmengen an Ressourcen verschlang, produzierten staatliche, halbstaatliche und private Wirtschaftsunternehmen zunehmend mit KZ-Häftlingen. In der Folge entstanden immer neue Außenlager.3

Das Arbeitslager Neu-Dachs
Neu-Dachs war eines der zahlreichen Außen-, Neben- bzw. Arbeitslager, die schon bald von den Hauptlagern (Stammlagern) gegründet wurden, um die Zwangsarbeiter näher bei ihren Arbeitsplätzen unterbringen und damit Fahrwege sparen und die Arbeitszeiten ausdehnen zu können. Ab Mitte 1944 nahm ihre Zahl stark zu (siehe Kap. 17.4). Das Lager Neu-Dachs wurde am 15. Juni 1943 in der Nähe des Bergwerks »Dachs« errichtet. Es lag verkehrsgünstig an der Straße zwischen Kattowitz und Krakau. Als Mordechai eintraf, war es noch ein junges Lager, das im Aufbau begriffen war. Für die Errichtung des Lagers waren polnische und tschechische Handwerker als erste Häftlinge eingeliefert worden. Wie andere Nebenlager des KZ Auschwitz in der schlesischen Industrieregion stellte es den Bergwerken und Industriebetrieben Häftlinge als billige Arbeitskräfte zur Verfügung (vgl. Abb. 1). In und bei Jaworzno befanden sich sieben Steinkohlegruben und ein Elektrizitätswerk, das die Region mit Strom versorgte: die Energieversorgung Oberschlesien AG, kurz EVO. Hauptaufgabe des Arbeitslagers war der Bau eines neuen, sehr großen Elektrizitätswerks mit Namen »Kraftwerk Wilhelm«. Die geförderte Kohle sollte dieses Kraftwerk antreiben. Auch das Schienennetz der Region wurde erweitert.
Nach dem Ruhrgebiet war Oberschlesien die zweitgrößte Industrieregion des Deutschen Reichs. Da das Reich bzw. die Kriegswirtschaft die Rohstoffe und Produkte Oberschlesiens brauchte, wurde die Region und damit die Arbeitslager unter Hochdruck ausgebaut – so auch das Lager Neu-Dachs, das zu einem der größten Außenlager von Auschwitz wurde.4 Aufgrund der engen Verflechtung mit der Industrie standen die Arbeitskommandos vielfach unter der Aufsicht von deutschen Zivilisten, die die KZ-Häftlinge für wenig Geld von der SS erhielten.

Abbildung 2: Baracke, Neu-Dachs.

In Neu-Dachs herrschten im Lager extrem schlechte Lebens- und Arbeitsbedingungen, vor allem jedoch in den Gruben. Wegen des hohen Arbeitsdrucks ging die Zwangsarbeit mit hohen menschlichen Verlusten einher. Neue Zwangsarbeiter wurden regelmäßig wie neue »Ware« von LKWs aus dem Stammlager »angeliefert«, um die entstandenen »Lücken« zu füllen. Wer nicht mehr arbeitsfähig war, wurde von den LKWs ins KZ Auschwitz II-Birkenau transportiert und dort vernichtet.
Die SS-Wachen waren vor allem Volksdeutsche aus Polen. Im Lager befanden sich Ende 1944 ca. 3.600 Häftlinge (Mordechai Papirblat schätzt die Zahl der Häftlinge in seinem Buch mit 5.000 zu hoch; in seinen Vorträgen spricht er sogar von 7.000 bis 8.000, die auf den anschließenden Todesmarsch geschickt wurden). Unter den Häftlingen bildeten Juden aus unterschiedlichen Ländern Europas die größte Gruppe (ca. 80 %), gefolgt von christlichen Polen, sowjetischen Kriegsgefangenen und Deutschen.

Zum ganzen Kapitel:
Urteilsbegründung des Schwurgerichts beim Landgericht Aschaffenburg gegen Hans Stefan Olejak und Ewald Pansegrau, Sitzung vom 3. November 1980, S. 10-52.86-129, vgl. http://willikomunal.eu/ (17.04.2020)
Marc Buggeln, Das System der KZ-Außenlager. Krieg, Sklaverei und Massengewalt, Gesprächskreis Geschichte Heft 95, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2012. Boguslaw Kopka, Jaworzno – Lager »Neu-Dachs«. Geschichte, in: https://www.erinnerungsorte.org/lager/mpc/Memorial/mpa/show/mp-place/jaworzno-oboz-neu-dachs/ (28.12.2019).
Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, bpb Schriftenreihe Bd. 1708, Bonn 2016, S. 535-551.
http://auschwitz.org/en/history/auschwitz-sub-camps/neu-dachs/ (17.04.2020); hier findet sich auch ein Plan des Lagers.
https://de.wikipedia.org/wiki/SS-Arbeitslager_Neu-Dachs (28.12.2019).
http://www.tenhumbergreinhard.de/1933-1945-lager-1/1933-1945-lager-j/jaworzno.html (17.04.2020); enthält ein Täter- und Mitläuferverzeichnis.

1Abb. 1: Karte, David Dharsono, eigenes Werk, 2020, Rechte beim Verfasser.
2Wolfgang Schumann und Wolfgang Bleyer, Deutschland im zweiten Weltkrieg, Band 4, Berlin 1981, S. 167; zitiert bei https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-Sowjetischer_Krieg (17.04.2020).
3Vgl. Das KZ Auschwitz 1942 – 1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45, bearb. von Andrea Rudorff, VEJ 16, Berlin/Boston 2018, S. 31-34.
4Abb. 2: Unbekannter Autor, ohne Jahr (1943 oder 1944), Public Domain; vgl. http://auschwitz.org/gfx/auschwitz/_thumbs/en/defaultstronaopisowa/946/1/1/neu_dachs_4,oHuCn6impHCVqcKHZpY.jpg (17.04.2020).

Autor: Thorsten Trautwein, 06.06.2020